NachrufMarco Aurelio Reckinger – Der letzte Tanz einer verlorenen Naturgewalt

Nachruf / Marco Aurelio Reckinger – Der letzte Tanz einer verlorenen Naturgewalt
Marco Aurelio Reckinger

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Es scheint mir gerade absurd makaber, dass wir ein Leben erst dann wieder im inneren Auge der Vergangenheit vorüberziehen sehen, wenn es erloschen ist. So erging es mir die letzten Tage und Nächte.

Nachdem mich die Nachricht am frühen Morgen durch soziale Medien erreicht hatte, und ich mich noch im Halbschlaf auf den Weg machte, bebenden Herzens, ein paar Straßen weiter nur von meiner gemütlichen Wohngemeinschaft entfernt, zu einem Hauseingang pilgernd, um von einem Freund Abschied zu nehmen, war mir noch nicht bewusst, welche Leere er in den Köpfen vieler hinterlassen würde. Im Unglauben, in einem Gefühl von Hilflosigkeit und sich anbahnender Trauer erschlug mich dieser Moment, als ich tatsächlich vor der Herrfurthstraße 4 stand und ihn dort nicht mehr vorfand.

Lediglich ein paar Blumen und ein rezentes Smartphone-Pic, welches der Spätibesitzer seines Vertrauens hingehängt hatte, erinnerten noch an den Ort, an dem er seine letzten Monate verbrachte: der Eingang einer schon seit Ewigkeiten geschlossenen Spielothek. Sein Lager – Matratze, Schlafsäcke, seine kleinen zum Verkauf aufgestellten Graffiti-Bildchen, die Wein- und Schnapsflaschen, sein Spendenbecher, sein letztes Hab und Gut – war wie von Zauberhand verschwunden, wegradiert aus dem makellosen Bild der Herrfurthstraße.

Doch ich will von vorne beginnen: Marco wird in Brasilien geboren und in eine liebende Familie nach Düdelingen adoptiert. Ihm fehlte es scheinbar an nichts in seiner Kindheit. Mal ging er in Saarbrücken zur Schule, auch in Frankfurt, studierte Tontechnik in München, dann war er in Paris, zwischendrin immer wieder in Luxemburg, bevor er vor etwa acht Jahren zum ersten Mal in Berlin aufschlug.

Segeltrip und Hip-Hop-Klänge

Es fällt mir nicht leicht, die erste Begegnung mit Marco zu ersinnen. Doch es muss irgendwann zwischen unserem achten und zehnten Lebensjahr gewesen sein, ein Segeltrip mit dem Pandaclub in Südfrankreich. Es bleiben mir nur noch wenige Erinnerungen an dieses erste gemeinsame Ferienlager. Jedoch erinnere ich mich an ein starkes Bild, zu den neunziger Hip-Hop-Klängen von Bomfunk MC’s. Es war wahrscheinlich der letzte Tag, bevor wir unsere Koffer packen mussten und alle zusammen tanzen durften. Die Abschiedsdisco. Wie damals üblich und genau so, wie man es sich bei MTV abgeschaut hatte, standen wir im Kreis und Marco, damals schon in seinen jungen Jahren artistisch begabt, drehte und verrenkte sich auf dem Boden, tanzte, lachte und war voll und ganz in seinem Element.

Diese Szene, die sich gerade so nah anfühlt, scheint heute noch ausschlaggebend für seine Präsenz, seine Ausstrahlung, sein Selbstbewusstsein und seine Entschlossenheit. Er wollte sich nie sagen lassen, wie er sein Leben zu bestreiten hat, sondern lebte den tatsächlichen Augenblick. Er gab sich ihm hin, er blühte in ihm auf, strahlte und zog uns alle in seinen Bann.

Jahre vergingen, in denen wir uns immer wieder aus den Augen verloren und wiederfanden. In denen wir einander aus der Ferne beobachteten, bevor wir uns wieder annäherten. Auf den Feriencamps war er oft der Mittelpunkt des Geschehens, seine Geschichten so aufgebauscht und unglaubwürdig, doch wie sich herausstellen sollte, entsprach damals vieles davon noch der Wahrheit.

„Er hat mir so viele Geschichten zugetragen, dass ich mir schwer vorstellen konnte, dass ein Mensch so viele Leben in einem vereint“, erzählte mir eine Nachbarin.

Doch so war er. Ein unglaublich getriebenes Wesen, ein Wirbelsturm der Emotionen, unfähig, ruhig sitzen zu bleiben und auch nur für einen kleinen Moment innezuhalten. Alles musste immer raus aus ihm, sonst wäre er womöglich einfach geplatzt. Ein Mensch, der so viele Talente innehat, weiß natürlich auch, seine Ventile zu benutzen, seine Energie in körperliche oder kreative Prozesse umzuwandeln und diesen Ausdruck zu verleihen; vielmehr für sich selbst, um klar denken zu können, als für wen anderes.

Wirbelsturm der Emotionen

Er produzierte wie wild Beats für sein Alter Ego „Crackson“ und sein Elektro-Duo „Christal & Crack“, schrieb verkrakelte Hip-Hop-Texte als „Tatword“ in seine Notizbücher, zeichnete Graffitis und entwarf verrückte Konzepte und Scheinwelten in seinem wirbelnden Hirn.

Umso tragischer war es, als diese Energie sich wandelte und aus dem frischen, tobenden Marco innerhalb kürzester Zeit ein müder Mann wurde. Seine Sprache sich verlangsamte und sein strahlendes Wesen sich verdunkelte. Es machte mir Sorgen, doch ich tat es als Phase ab, dachte mir: Das wird schon wieder, er findet da raus.

Ich sollte unrecht haben. Nach einem letzten Besuch auf der Entzugsstation im Vivantes-Krankenhaus war er einige Zeit wie vom Erdboden verschluckt.

Es ist schwer nachvollziehbar, wie ein Mensch seines Kalibers auf der Straße landen kann. Unbegreiflich auch, zu verstehen, was einen antreibt, dort zu bleiben, mir auszumalen, dass es womöglich die konsequente Fortsetzung eines umtriebigen Lebens war, in dem er keine Kompromisse eingehen wollte und in dem es schien, als fühle er sich wohl. Abgeschirmt von der scheinbaren Gesellschaft, auf sich alleine gestellt, ohne lästige Fragerei der dahinschwindenden Wegbegleiter. Langsam, aber sicher mutierte er zu einem Steppenwolf, der von einer in sich wütenden Kraft geleitet in den U-Bahnhöfen Neuköllns umherirrte.

Marco war ein Unikum hier im Kiez, er war den Umständen entsprechend gepflegt und stylisch, er fiel auf durch seine schlaksige Gestalt. Er war wie ein Wachhund, der teilweise bellend, teilweise schleichend die Straße beobachtete, doch niemandem jemals etwas zuleide tat.

Sein strahlend gutes Herz und seine unverstimmbare Seele blieben ihm treu, wenn auch verschanzt in einem langsam dahinschwindenden Körper.

Wie es sich anfühlen muss, sein gesamtes Leben hinter sich zu lassen, seine Freund:innen und Familie zu verlieren, sich ganz dem Exzess zu verschreiben und diesen so zwanglos hochleben zu lassen, als gebe es tatsächlich keinen Morgen, bleibt mir verborgen. Sicherlich spielte die Suche nach seiner wahren Identität eine große Rolle in diesem ganzen Wahnsinn. Er fühlte sich – wie er mir öfters berichtete – nie ganz wohl hier in dieser von Weißen dominierten Gesellschaft, unwissend, wie es sein muss, seine wirkliche Herkunft anzuerkennen. Es war eine Sehnsucht nach Brasilien und eine nie angetretene Suche nach seinen leiblichen Eltern, die ihn nicht losließ.

Diese tragische Geschichte steht sinnbildlich für alle Wohnungslosen, die uns tagtäglich auf der Straße, in den U-Bahnen und unter Brücken begegnen. Unser Blick soll sich bestenfalls erweitern und unsere Lippen sollen nicht verstummen, wenn wir Obdachlosen begegnen. Hilfe ist immer willkommen, in diesen von Kälte und der Pandemie verhärteten Zeiten umso dringender.

Marco ist nicht mehr da, was bleibt sind unzählige Fragen an das Sozialsystem, das ihn scheinbar hat gehen lassen. Inwiefern hat der Sozialpsychiatrische Dienst Neuköllns versagt, indem er ihm unzureichend Hilfe anbieten konnte? Wie kann es sein, dass in seinen letzten Tagen zweimal Rettungssanitäter:innen um Hilfe gerufen werden, ihn aber nicht mitnehmen? Müssen wir hier von unterlassener Hilfeleistung sprechen?
Warum ist sein letzter sozialer Unterschlupf „Das Syndikat“ (die linke Kultkneipe im Kiez) ausgerechnet von Immobilienhaien einer luxemburgischen Briefkastenfirma aufgefressen worden?

Es ist ein Wechselbad der Gefühle, sich zwischen diesen Fragen, den schönen Bildern der unzähligen Konzerte, Feiern, Kochabende, Lachanfälle und den durchaus schmerzhaften Erinnerungen an die letzten Jahre zu bewegen. Was mir jedoch bleibt, ist die Hoffnung, dass Marcos Geschichte zum Denken anregt und uns zeigt, wie schmal die Gratwanderung sein kann.

Ich spreche mein tiefstes Beileid aus, an seine Eltern, seine ganze Familie und alle, die ihn kannten, schätzten und liebten. Einen großen Dank auch an alle Nachbar:innen, die ihn die letzten Jahre gepflegt, ihm geholfen und ihn als Teil ihrer Straße und ihres Alltags anerkannt haben.

Auf dass seine Kraft unvergessen bleibt!

Jeder Mensch hat seine Geschichte,
jede Geschichte ihr Schicksal,
jedes Schicksal ein Eigenleben
und jedes solche ein Ende.

Hélène
25. Januar 2021 - 23.48

Danke danke für diesen sensiblen Nachruf. Werde den ausdrucken und zur Herrfurthstr. 4 bringen.

Clemens RM
25. Januar 2021 - 23.33

@Max Thommes Et ass immens schwéier déi richteg Wierder ze fannen wann et drëm geet iwwert e Verstuerwenen ze schreiwen. Dat ass Iech op eng eenzegaarteg Aart a Weis gelongen. @De Bréifdréier Beréierend Erënnerungen

Den Bréifdréier
25. Januar 2021 - 14.17

Schockéiert hun ech d’Nooricht gelies vum Doud vun dem kléngen Jong den nierwent dem Bréifdréier um Heemwee vun der Schoul gelaaf ass an sou flott erzielen konnt.Iergendwéi huet hien mech deemols vum séngem Ausgesin un den Jimi Hendrix erennert an oft hun mir ons iwwert d’Musék ennerhaalen.Hien wosst dat ech och Musék spillen an schnell wor mir kloer, den Marco hat d’Musék am Blut.Spéider hun ech matkritt hien an der Musékscene aktiv wor .Elo no laanger Zait, ech aal sin , hien ennert esou uergen Emstäenn , jonk aus dem Liewen gerappt gin, freed et mech ,nach aner Menschen do sin, sech dem Marco erenneren .Gudden Noruff, Max Thommes.