Marc Girardelli im Interview: „Mein Vater musste mich immer bremsen“

Marc Girardelli im Interview: „Mein Vater musste mich immer bremsen“

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Marc Girardelli hat fünfmal den Gesamt-Weltcup gewonnen, ein bis heute unerreichter Rekord. Der gebürtige Österreicher feierte seine größten Erfolge im Weltcup, bei Olympischen Winterspielen oder Weltmeisterschaften für den luxemburgischen Verband. / David Thinnes

Das Tageblatt hat sich vor den Olympischen Winterspielen in Vancouver mit dem 46-Jährigen, der in Whistler für die Arlberger Nachrichten und ein Magazin schreiben wird, unterhalten. Themen waren nicht nur seine Karriere – sportlich wie unternehmerisch –, sondern auch der Wirbel um ein Flambeau-Interview, die XXI. Spiele und die aktuelle Sicherheitsdiskussion im internationalen Ski-Rennsport.

Tageblatt: Seit Beginn der Weltcup-Saison 2009/10 hat es viele schwere Stürze gegeben; die Sicherheitsdiskussion wurde wieder mal neu entfacht. Sie haben gesagt, dass es bei der Abfahrt in Wengen keinen Unterschied mehr zu einem Super-G gibt.
Marc Girardelli: „Seit zehn Jahren gibt es die Carving-Ski und seitdem wurde die Kurs-Setzung sukzessive verändert. Die Krux ist jedoch: Diese Carving-Ski sind so gut, dass die Rennläufer das höchste Tempo auch um die schärfsten Ecken herum ziehen können. Das Durchschnittstempo verändert sich nicht, wenn man mehr Kurven reinbringt. Es schaut dann aus wie ein Super-G, ist aber schlussendlicM. GIRARDELLI STECKBRIEF

o Geboren am 18. Juli 1963 in Lustenau (Österreich)

o Olympische Spiele: Teilnahmen: 3 (1988: Calgary, 1992: Albertville, 1994: Lillehammer); Medaillen: 1992: Silber im Super-G und im Riesenslalom

o Weltcup: Siege: 46
Gesamt-Weltcup-Siege: 5 (1985, 1986, 1989, 1991, 1993)
Podien: 100

o WM: viermal Gold (3x Kombination, 1x Slalom), viermal Silber (2x Slalom, 1x Riesenslalom, 1x Super-G), dreimal Bronze (1x Kombination, 1x Slalom, 1x Riesenslalom)

o Karriereende: 1996

o Internet:
www.marc-girardelli.com
h gleich schnell wie früher. Die Belastung wird enorm bei 100 km/h in den Kurven auf eisigen Pisten. Wenn man dann bereits eine gewisse Distanz in den Beinen hat, ist der Körper nicht mehr so fit und dann passieren Fehler und dann kommen die Verletzungen. Der Läufer hat nicht mehr die Kraft, dieses Material unter Kontrolle zu halten. Da muss man drastische Änderungen vornehmen.“

„T“: Das Problem ist ja auch, dass eine ganze Industrie dran hängt und die wollen ihre Ski verkaufen.
M.G.: „Die Industrie hat momentan ganz andere Probleme. Die würde jetzt alles verkaufen. Der Hobby-Skifahrer hat das Material bei hohem Tempo auch nicht unter Kontrolle. Wenn eine Entwicklung Richtung Sicherheit entsteht, kann das für die Industrie interessant sein.“

„T“: Sie hatten selbst viele Verletzungen. Entwickelte sich das Material zu schnell?
M.G.: „Nein. Ich glaube, dass das Material momentan nur von den Allerbesten genutzt werden kann. Ich spüre das bei mir. Wenn ich mal einen Rennski an den Füßen habe, bin ich nicht in der Lage, habe ich nicht die körperliche Konstitution – und ich bin noch physisch relativ gut drauf –, um den Ski unter Kontrolle zu haben. Wenn ich Rennen fahre, benutzte ich einen Damen-Rennski oder einen normalen Ski. Da kann ich nicht so schnell fahren.“

„T“: 1996 haben Sie Ihre sportliche Karriere beendet und sind Unternehmer geworden. Zu Beginn haben Sie Bier verkauft …
M.G.: „Das waren meine ersten Schritte nach dem Skisport. Es hat sich nicht entwickelt. Die Chinesen haben nicht auf mich gewartet. Alle Firmen die dort sind, haben eigentlich Probleme. Die warten natürlich nicht auf Westler. Das sind sehr wirtschaftsorientierte Menschen, aber sehr sympatisch. Es war eine Erfahrung wert.“

„T“: Was ist der Unterschied zwischen einem Ski-Rennläufer und einem Unternehmer?
M.G.: „Also, beim Ski-Rennläufer ist die Gefahr sicherlich größer, sich zu verletzen. Es gibt eigentlich viele Parallelen. Ein Unternehmer muss auch Leistung bringen, um wettbewerbsfähig zu sein. Im Sport sieht man das Resultat wesentlich schneller.“

„T“: Ist die Karriere nach dem Sport so verlaufen wie erwünscht?
M.G: „Ich hatte gar keine Idee für das Leben nach der aktiven Karriere. Das war ein Fehler. Man muss die richtige Kombination finden: Was tue ich gerne und womit kann ich Geld verdienen. Das hat sich bei mir nicht eingestellt. Das kann ich aber jedem Sportler empfehlen, darüber nachzudenken. Bei mir war das zufällig. Es kann sich aber so entwickeln, dass ich fünf Jahre etwas ganz anderes mache. Z.B. bin ich seit einem halben Jahr beratend in der Golf-Branche tätig. Golf ist eine Leidenschaft, auch wenn ich es nicht kann. Aber wer kann schon Golf spielen. Bei mir ist wichtig, dass die Bälle weit fliegen.“

„T“: Fünf Gesamtweltcup-Siege: ein Rekord für die Ewigkeit?
M.G: „Wenn jemand einen sechsten gewinnt, müsste ich schlimmstenfalls noch einmal anfangen.“

„T“: Sie sind für einen kleinen Verband gefahren. Bei der WM müssen kleine Länder eine Qualifikation bestreiten. Diese verlangen aber, sofort im Hauptrennen zu starten. Was ist Ihre Meinung dazu?
M.G.: „Es gibt viele kleine Nationen. Natürlich ist es attraktiv, das anzusehen. Aber ich denke, dass es unmöglich ist, das zeitlich durchzuführen. Da müsste man mit 10“ Intervallen starten. Dann kann man gleich einen Massenstart machen. Ich glaube schon, dass die FIS die Notbremse gezogen hat, um das auszusondieren. Technisch ist es einfach nicht möglich. Bei den Sommerspielen hat es einen nigerianischen Schwimmer gegeben, der hat ja fast 5′ für 50 m benötigt. Aber an so etwas erinnert man sich auch wie an Eddy the Eagle.“

„T“: Wie kann man Wintersport in einem Nicht-Bergland fördern?
M.G.: „Um das großflächig zu machen, wird schwierig. Als Gegenpol kann man aber zum Beispiel den kroatischen Skiverband heranziehen. Dort gibt es so gut wie keine Skigebiete. Man war trotzdem in der Lage – im Schlepptau der Familie Kostelic –, ein hohes Niveau zu erreichen. Kroatien hatte mit Skisport eigentlich nicht viel zu tun. Man braucht Leute – Eltern und Funktionäre –, die das idealistisch betrachten. Kostelic hat die ersten beiden Jahre bei den Trainings im Auto übernachtet. Es hat dem Erfolg keinen Abbruch getan. Über den Erfolg ist der ganze Verband nachgekommen. In Luxemburg gibt es aber wohl generell eine andere Denkweise gegenüber dem Sport. Da gibt es ein Ungleichgewicht. Es ist bewiesen, dass Kinder besser lernen durch den Sport. Das Problem gibt es nicht nur in Luxemburg. Auch in anderen Ländern wird der Sport stiefmütterlich behandelt.“

„T“: Die Beziehung zu Ihrem Vater wurde immer viel diskutiert. Wie sehen Sie das mit ein bisschen Abstand?
M.G.: „Mein Vater war nicht dreimal in meinem Leben bei einem Konditionstraining anwesend. Seit ich zehn bin, trainierte ich selber. Beim Skitraining hat er mich nicht einmal zu etwas gezwungen. Im Gegenteil, er musste mich bremsen. Mit gutem Gewissen kann ich sagen, dass es nicht den geringsten Druck gab. Auch wenn wir jetzt nicht das beste Verhältnis haben, auch weil wir uns selten sehen.“

„T“: 2007 haben Sie in einem Interview gesagt, dass Sie der FIS bereits vor 20 Jahren vorgeschlagen haben, Blutkontrollen durchzuführen. Gibt es heute Doping im alpinen Skisport?
M.G.: „Bis jetzt hat man niemanden erwischt. Es hat zwei, drei Einzelfälle gegeben: Hans Knauss, Alan Baxter. Soweit ist der Skisport clean. Vom Langlauf lassen wir mal ab. Kontrolle ist besser als Vertrauen. Es ist gut, wenn der weiße Sport weiß bleibt. Und dass man alles dafür unternimmt. Es geht nicht darum, ob man eine Medaille mehr gewinnt. Das Schlimme ist, wenn man Jugendliche mit solchen Sachen vollstopft, damit sie Leistung bringen – das ist eine Katastrophe. Wenn jemand mit 25 Jahren dopt, ist es seine eigene Entscheidung. Aber bei einem Jugendlichen, Kind, da hört bei mir der Spaß auf. Ich hoffe, dass die Schraube angezogen wird, so dass wenigsten ein paar Sportarten bleiben, wo man sagen kann, die sind clean.“

„T“: Das Interview im Flambeau (Nummer 70/März 2009) hat für viel Aufsehen gesorgt. Vor allem die Aussage, „die einzigen, international erfolgreichen Sportler aus Luxemburg stehen unter Dopingverdacht“. Stehen Sie zu diesen Aussagen?
M.G.: „Ich war überrascht über das Aufsehen. Ich muss nichts zurücknehmen. Ich sage, was ich glaube und wovon ich überzeugt bin. Wenn jemand etwas dagegen hat, soll er mich damit konfrontieren. Damit habe ich kein Problem. Mit Funktionären schon gar nicht.“

„T“: COSL-Präsident Marc Theisen hat in einem „Wort“-Interview gesagt, er stufe Ihre Leistungen wesentlich niedriger ein als andere Ergebnisse der letzten Jahrzehnte. Dem Luxemburger Sport hätten Ihre Resultate nichts gebracht. Er sagte auch, dass Sie sich nicht um Integration bemüht hätten. Die Resultate hätten nur statistischen Wert. Wie stehen Sie zu den Vorwürfen?
M.G.: „Ich sehe daraus, dass Herr Theisen einen großen Zorn auf mich hat. Als Funktionär kann er sich vielleicht gar nicht anders ausdrücken, als meine Leistungen in den Dreck zu ziehen. Auch weil er ein Skirennen wahrscheinlich nie anders gesehen hat als von der VIP-Tribüne aus. Wenn er nur ansatzweise wüsste, wie andere Sportler in Skiverbänden unterstützt werden, und was ich und auch meine Eltern für den luxemburgischen Verband und die Jugend gemacht haben, würde er sicherlich anders sprechen.“  


Girardellis Alpin-Tipp 

„Das Niveau scheint bei den Schweizern sehr zu variieren. Am besten geht es ihnen, wenn es sehr schwierig ist wie in Wengen, Beaver Creek oder auch Sölden.
Dazwischen sind aber große Aussetzer. Das hilft einem Beni Raich, mit einer für ihn mittelmäßigen Leistung im Weltcup einen Vorsprung rauszufahren. Eine Prognose ist schwierig. Die Probleme der Österreicher dauern an. Aber in der Abfahrt scheint es wirklich eklatant zu sein. Aber da sie sowieso so lange dominiert haben, ist es fast normal, wenn mal ein Durchhänger kommt. Bei den Damen scheint kein Weg an Vonn vorbeizuführen. Sonst sehe ich nur Riesch als wirklich starke Persönlichkeit.“ Zettel hat zumindest wieder eine Pause eingelegt und verzichtete auf Weltcup-Rennen. Genauso wie im letzten Jahr und da hat es auch nicht so funktioniert, wie man sich das in Österreich erhofft hatte.“