/ Kompromisskultur und Drohkulisse

(Ifinzi)
In der Schweiz ist die direkte Volksbefragung tief in der politischen Kultur verankert. Eigentlich prägt sie sogar das ganze politische System. Das hat durchaus Vorteile – aber eben nicht nur. Denn neben der schweizerischen Kompromisskultur hat der Journalist Daniel Binswanger in den letzten Jahren eine „ungemütliche Dynamik“ ausgemacht. Ein Gespräch über Nutzen und Nachteil der „direkten Demokratie“.
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Am 21. Mai um 19 Uhr
Salle Dune in der Abbaye de NeumünsterFreier Eintritt
In der Schweiz gibt es eine fest etablierte Kultur der Volksbefragung. Ihre Bilanz?
Die Schweiz ist auf lange Sicht gesehen ein sehr erfolgreiches Land. Das hat nicht nur mit Politik zu tun, aber natürlich auch. Was die Zufriedenheit der Bürger und die Identifikation mit dem politischen System anbelangt, schneidet das Land im internationalen Vergleich hervorragend ab. Allerdings muss diese global positive Bilanz nuanciert werden. Wir stellen seit der Jahrtausendwende fest, dass das politische System immer einschneidendere Dysfunktionalitäten ausweist. Und die haben vorwiegend mit der direkten Demokratie zu tun. Und wir stellen auch fest, dass sich die Institutionen der direkten Demokratie sehr stark verändern.
Inwiefern?
Die Parteienlandschaft verändert sich, die spezifisch schweizerischen Modelle der Kompromissfindung verändern sich, die politische Kommunikation verändert sich. Im Zentrum dieser ganzen Dynamik stehen Volksbefragungen. Es sind viele einschneidende politische Entscheidungen in den letzten Jahren in der Schweiz gefallen, die zumindest als problematisch zu gelten haben, ob man sie nun für falsch oder richtig hält. Ich würde dazu neigen, viele dieser jüngsten, von rechtspopulistischen Kräften getragene Volksentscheidungen für grundfalsch zu halten.
Aber selbst wenn man sie für richtig hält, bleibt immer noch das Problem, dass diese Entscheide im Widerspruch etwa zur europapolitischen Strategie des Landes, zur Entwicklung des Wirtschaftsstandortes oder zu den Grundrechtsgarantien der schweizerischen Verfassung stehen. Wir haben eine Krise der helvetischen Institutionen der direkten Demokratie in der jüngsten Zeit. Das sollte Ländern, die Modelle der direkten Demokratie zu übernehmen erwägen, sehr zu denken geben.
Wenn man unterstellt, dass nicht jeder gleich informiert ist, steht die Tür für Populismus bei Volksbefragungen ja sehr weit offen.
Zunächst einmal gibt es das Problem der Informiertheit des Stimmbürgers. Entscheidungsrationalität ist am allerbesten gewährleistet, wenn über ganz einfache Fragen abgestimmt wird.
Das heißt, dann ist das Volk sozusagen „vernünftig“?
Ob es vernünftig ist, ist noch einmal eine ganz andere Frage. Die erste Frage ist: „Weiß es, worüber es abstimmt?“ Das zweite ist: „Lässt es sich von Affekten leiten oder kommt eine gewisse staatspolitische Bedachtsamkeit zum Tragen?“ Ein Beispiel: Minarette, ja oder nein? Das war ein rationaler Entscheid, weil es ein informierter Entscheid gewesen ist. War es aber ein vernünftiger Entscheid, in dem Sinne, dass es ein richtiger Entscheid war?
Ich würde ganz vehement „Nein“ sagen. Man muss die Minarett-Initiative als klassisches Beispiel eines durch populistische Kräfte dominierten Volksentscheides bezeichnen. Aber es war ein rationaler Entscheid im Sinne der Informiertheit. Bei europapolitischen Fragen, die ungeheuer komplex sein können, stellt sich hingegen das Problem, dass die Leute nur zu Teilen erfassen, worüber sie abstimmen.
Das heißt Volksbefragungen funktionieren am besten, wenn die Fragen ganz einfach sind?
Absolut. In dem Sinne, dass die Leute dann auch wirklich wissen, was sie tun. Obwohl sie auch dann noch etwas Unvernünftiges tun können. Grundsätzlich wird desto rationaler entschieden, je einfacher die Frage ist. In der Regel ist das bei gesellschaftspolitischen Fragen der Fall.
Höhere Identifikation
Sind Volksbefragungen denn auch als Instrument geeignet, eine politische Kultur zu fördern und zu beleben?
Der Bürger, der regelmäßig befragt wird, identifiziert sich mehr mit dem Staat und den Institutionen. Es entsteht das Gefühl einer größeren Partizipation. Es gibt aber ein anderes Problem und das ist die immer stärkere Entwertung der repräsentativen Instanz. Wir sind in der Schweiz fast so weit, dass ein politisches Selbstverständnis herrscht, als ob nur noch direktdemokratische Volksentscheide legitim wären.
Exekutive und Legislative werden mehr und mehr als eine abgehobene politische Klasse disqualifiziert, der nicht zu trauen ist. Gesetze, die nicht durch ein Referendum bestätigt worden sind, werden häufig als eigentlich korrupte und quasi-mafiöse Veranstaltungen gebrandmarkt. Dieser Diskurs wird von den populistischen Kräften in der Schweiz sehr stark forciert, und er ist auch immer erfolgreicher.
Kritisch könnte man ja anmerken, dass es eine Volksbefragung alle paar Jahre bei den Wahlen gibt.
Absolut. Es ist ja nicht so, dass die repräsentative Demokratie keine Demokratie ist. Aber der Wählerwille kommt bei der Volksbefragung direkter zum Ausdruck. Allerdings kann man geltend machen, dass die repräsentative Demokratie auch Vorteile hat. So sollte sie etwa, zumindest theoretisch, eine höhere deliberative Qualität haben. Referenden degenerieren häufig zu fürchterlich primitiven Propagandaschlachten.
Aber entlässt eine Volksbefragung die Politiker nicht ein Stück weit aus ihrer Verantwortung?
Es gibt in der Schweiz die sehr problematische Tendenz, dass die Politik sich hinter der Volksbefragung versteckt. Es bleibt ihr auch gar nichts anderes übrig, weil sie ständig mit der Drohung eines Referendums lebt. Das fördert die Kompromisskultur, hat aber auch eine gewisse Kultur der Verantwortungslosigkeit der Entscheidungsträger zur Folge.
Eine der ganz großen Lektionen aus dem Schweizer Beispiel ist, dass starke Institutionen der direkten Demokratie ungeheuer einschneidende Folgen für die Funktionsweise der repräsentativen Instanzen haben.
Das zieht sich durch alle Ebenen. Wir haben kein Regierungs-Oppositions-System. Es ist permanent eine Art große Koalition an der Macht. Das ist eine rein pragmatische Antwort auf die Frage, wie eine Exekutive regieren kann, ohne permanent durch Referenden paralysiert zu werden. Die Institutionen der direkten Demokratie haben unsere Regierung gezwungen, eine sehr starke Kompromisskultur herauszubilden. Politische Entscheidungen müssen durch Kompromisse mit einer ganzen Reihe von Akteuren abgestützt werden, damit man sicher ist, dass niemand dagegen das Referendum ergreift.
Wenn man jetzt dieses Instrument einem Land anbietet, wo es diese institutionalisierte Kompromisskultur nicht gibt, stellt das nicht besondere Herausforderungen an die Politik? Beispiel Populismus.
Grundsätzlich glaube ich, dass man da sehr vorsichtig sein muss. Es kann nur dann funktionieren, wenn das ganze politische System so umfunktioniert wird, dass man mit Volksbefragungen in hoher Kadenz umgehen kann. Eine repräsentative Demokratie, die sich dieses System aufpfropft, würde starke Schwierigkeiten bekommen.
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