Retro 2020Im Jahr der Ernüchterung bekam der Kulturschaffende seinen wahren Stellenwert vor Augen geführt

Retro 2020 / Im Jahr der Ernüchterung bekam der Kulturschaffende seinen wahren Stellenwert vor Augen geführt
 Foto: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa

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„Sag alles ab“: Im März verwies ich mit dieser Tocotronic-Anspielung mit etwas Ironie auf die Zwangspause, die dem Kulturbetrieb auferlegt wurde und die einige Kulturschaffende erst enthusiastisch nutzten, um zur Ruhe zu kommen und an eigenen Projekten zu arbeiten, anstatt sich in einer übersättigten Kulturlandschaft von Auftragsarbeit zu Auftragsarbeit in den Burnout zu schuften.

Es war eine Zeit der Hoffnung. Einige hofften auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen, merkten jedoch nicht, dass es nicht ausreicht, diese in einem Facebook-Post herbeizuwünschen, um sie auch tatenkräftig werden zu lassen: Die performative Fähigkeit der Sprache ist dann doch beschränkter, als es Sprachwissenschaftler wie Austin theorisierten (diese hatten vielleicht auch nicht an den Kommunikationsrausch und die damit einhergehende Vervielfältigung sprachlichen Durchfalls in den sozialen Netzwerken gedacht). Andere hofften etwas bescheidener auf ein schnelles Abebben der Pandemie. Erste Prognosen von Pandemie-Experten, laut denen es bis Herbst 2021 keine Festivals geben würde, erschienen dem Konzert-Aficionado maßlos übertrieben und unrealistisch.

Nach zahlreichen abgesagten, verlegten, erneut abgesagten oder nochmals verlegten Events, nachdem man die Rückkehr zur kulturellen Norm erst in den Herbst, anschließend symbolisch auf das neue Jahr programmiert hatte und sich auch diese Voraussage als voreilig erwies, dürfte sich selbst der größte Optimist dem Pragmatismus eines skeptischen Realisten verschrieben haben: 2020 war kein gutes Jahr für die Kultur. Eine Rückkehr zu altbekannter Kulturpraxis wird sich nicht nur noch eine Weile hinauszögern, sondern erscheint auch deswegen immer illusorischer, da der Kulturschaffende in dieser Krise seinen Stellenwert schmerzlich vor Augen geführt bekam. So gilt 2020 als das Jahr, in dem der Neoliberalismus sein wahres Gesicht zeigen durfte, weil in verschiedenen Bereichen einfach nicht mehr so genau hingekuckt wurde.

Während auf politischer Ebene heuchlerisch und fast gebetsmühlenartig wiederholt wird, wie wichtig die Kultur für die gesellschaftliche Kohäsion und das mentale Wohlbefinden des Bürgers ist, wurde gleichzeitig aktiv daran gewerkelt, die Kultur mundtot zu machen. Konkret zeigt sich das so:

1. Im Flugzeug darf auf engstem Raum nebeneinander gesessen werden, während in den Kulturhäusern auf eine Distanz von zwei Metern (einschließlich des Tragens einer Maske) insistiert wurde. Verschiedene Orte sind wohl einfach ansteckender als andere.

2. Obwohl in Kirchen Cluster nachgewiesen wurden, durften sich Glaubensgemeinschaften weiterhin versammeln, während die Theater- und Kulturhäuser, in denen es keine nachweisbaren Infektionen gab, wieder schließen mussten. 2020 war gleichzeitig das Jahr der Medizin (nie zuvor wurde so viel auf Ärzte und Virologen gehört) und das Jahr, in dem die Politik regelmäßig medizinische Erkenntnisse mit Füßen trat, wenn es ihr gerade in den Kram passte.

3. Bei der Aufzählung der neuesten sanitären Auflagen wird die Kultur oftmals vergessen. So wurde die rezente Schließung der Museen fast nirgendwo erwähnt. Die Gleichgültigkeit der Politik spiegelt sich in der Berichterstattung der Medien wider, in denen das Totschweigen der Kultur schlicht und einfach reproduziert wird.

4. 2020 wurde das gesellschaftliche Leben implizit zweigeteilt: Einerseits gibt es das Tagesgeschäft, das vom Familienleben und der Arbeit regiert wird und um jeden Preis aufrechterhalten werden muss, andererseits das verruchte Nachtleben, in dem schattenhafte Gestalten aus den Theatern herausströmen, um sich in der Promiskuität der Kneipen zu infizieren – und das man zum Teil grundlos schließen kann.

5. Dabei wird verkannt, dass genau ein solch heteronormatives Denken, in dem Familie und Arbeit über alle anderen Lebensformen und -haltungen gestellt wird, einer kulturlosen Welt entspringt, die in ihrer primitiven Einfältigkeit ihren Bürgern ein einziges Lebensmodell aufzwängen möchte.

6. Mit der Schließung aller gesellschaftlichen und kulturellen Treffpunkte wird der Mensch zunehmend als reine Arbeitsmaschine und als zweibeiniger Geldbeutel aufgefasst. Wo man früher zwischen zwei Weihnachtseinkäufen über einer Tasse Kaffee ein paar Seiten in einem Café lesen konnte, wurde dieses Jahr von einem überlaufenen Geschäft zum nächsten gehetzt: Willkommen im Zeitalter des Utilitarismus!

7. Kultur ist letztlich gut genug, um das Abendprogramm im Lockdown zu füllen. Der Künstler soll wie ein Hofnarr den ermüdeten Bürger womöglich kostenfrei ablenken. Dieses Jahr wurde zwar viel Kultur gestreamt, dafür wurden sich aber viel zu wenig Gedanken darüber gemacht, dass digitale Kunstformen für Künstler immer noch alles andere als rentabel sind.

8. 2020 wird auch als das Jahr eingehen, in dem die Kluft zwischen staatlich konventionierter Kultur und Gegenkultur größer wurde: Während „parastaatliche“ Institutionen wie die Rockhal oder die Rotondes sich in Sicherheit wiegen, kämpfen andere ums Überleben. Ohne die Inspiration der Gegenkultur gehen dem Mainstream jedoch die Ideen aus und die Kultur riskiert, sich zu erschöpfen.

Bedenkt man all dies, wundert es einen eigentlich, dass die Kulturschaffenden nicht, wie bisher in Frankreich geschehen, verstärkt rebellieren. Vielleicht fehlt dem Sektor in der Sinnkrise zurzeit auch dafür die Kraft.

Frederik
3. Januar 2021 - 10.59

Guter Artikel. Unsere Gesellschaft macht mehrere Schritte gleichzeitig zurück in längst überwundene Zeiten in denen Kultur vom Staat kontrolliert bzw vorgegeben wurde. Letztlich bricht sich aber immer die Kultur / Freiheit ihre Bahn; auch hier gilt die ungeliebte Regel: Angebot und Nachfrage !....

J.Scholer
3. Januar 2021 - 9.45

@Carlo: Kunst geht nach Brot

Eve
2. Januar 2021 - 10.01

Das Jahr 2021 wird auch nicht besser,leider.

Carlo
1. Januar 2021 - 12.01

Es ist tatsächlich bitter und enttäuschend festzustellen, dass einem als Künstler in seinem Heimatland keine Hilfe zusteht, obschon man Steuern zahlt.