Neuer AnlaufEU-Kommission legt Vorschlag für neue Asyl- und Migrationspolitik vor

Neuer Anlauf / EU-Kommission legt Vorschlag für neue Asyl- und Migrationspolitik vor
Teilnehmerinnen einer Demonstration eines Bündnisses für die sofortige Evakuierung aller griechischen Lager halten Schilder mit der Aufschrift „Keine Festung Europa. Schützt Menschen! nicht Grenzen!“ und „Wir haben Platz“ Foto: Jörg Carstensen/dpa

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Seit Jahren sind die EU-Staaten heillos über die gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik zerstritten. Wie akut die Lage ist, hat jüngst die Brandkatastrophe im Flüchtlingslager Moria gezeigt. Gelingt nun ein Neustart?

Die EU-Kommission nimmt an diesem Mittwoch gegen Mittag einen neuen Anlauf für die seit Jahren blockierte Reform der Asyl- und Migrationspolitik. Dazu will die Brüsseler Behörde Vorschläge vorlegen, über die die EU-Länder und das Europaparlament anschließend verhandeln. Seit der großen Flüchtlingsbewegung 2015 sind die EU-Staaten bei diesem Thema völlig zerstritten.

Medienberichten zufolge setzt die EU-Kommission darauf, die EU-Staaten künftig in Ausnahmesituationen zur Hilfe zu verpflichten. Dabei müssten sie entweder Schutzbedürftige aufnehmen oder könnten andere Hilfe leisten, etwa bei der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber. EU-Kreise bestätigten dies. Einen verpflichtenden Verteilmechanismus von Migranten auf alle EU-Staaten soll es nicht geben. Dies dürfte Ländern wie Ungarn, Polen und Österreich entgegenkommen, die das ablehnen.

Infolge der Corona-Krise ging die Zahl der Asylanträge in der EU in diesem Jahr deutlich zurück. Im zweiten Quartal 2020 ist die Zahl der Erstanträge auf internationalen Schutz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 68 Prozent auf rund 46.500 gefallen, wie die EU-Statistikagentur Eurostat mitteilte. Der starke Rückgang sei auf die Notfallmaßnahmen zurückzuführen, die die EU-Staaten seit Anfang März wegen der Coronavirus-Pandemie ergriffen hätten.

Verteilung der Menschen seit Jahren Kern der Diskussion

Insgesamt habe es innerhalb der ersten sechs Monate des Jahres 196.600 Erstanträge auf Asyl gegeben. Die meisten Anträge – fast ein Drittel (14.200) – wurden zwischen April und Juni in Deutschland gestellt. Im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße liegt das kleine EU-Land Zypern jedoch mit 880 Anträgen auf dem ersten Platz.

Die Verteilung Schutzsuchender auf die EU-Staaten ist seit Jahren Kern der Diskussion. Die derzeit gültigen Dublin-Regeln sehen vor, dass meist jener EU-Staat für einen Asylantrag zuständig ist, auf dessen Boden der Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betreten hat. Dies belastet vor allem Länder an den EU-Außengrenzen – etwa Griechenland, Italien oder Spanien. Sie fordern mehr Unterstützung und eine Verteilung der Migranten auf die anderen Länder. Jeder Versuch einer umfassenden Reform scheiterte in den vergangenen Jahren.

Folgen der Blockade waren immer wieder Notfälle und Ad-hoc-Lösungen. Vor zwei Wochen brannte etwa das völlig überfüllte Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ab. Mehr als 12.000 Menschen wurden obdachlos. Italien und Malta lassen aus Seenot gerettete Migranten teils wochenlang auf Schiffen ausharren, ehe ihnen die Einfahrt in einen Hafen erlaubt wird.

Dreistufiges Konzept möglich

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte sich bei Amtsantritt Ende 2019 vorgenommen, diese Konflikte zu lösen. Die Vorschläge ihrer Behörde verzögerten sich aber immer wieder. Bei einer Rede im EU-Parlament rief von der Leyen die EU-Staaten jüngst zum Kompromiss auf. „Wir müssen wieder Vertrauen zueinander finden und gemeinsam vorankommen“, sagte sie. Dabei machte sie auch klar, dass jedes EU-Land seinen Beitrag zur gemeinsamen Migrationspolitik leisten müsse. Sie ließ jedoch offen, wie diese Solidarität aussehen solle.

Den Medienberichten zufolge beschreibt die EU-Kommission nun ein dreistufiges Konzept: Bei einer normalen Entwicklung können die EU-Staaten einander freiwillig helfen. Dies gilt zunächst auch für das zweite Szenario, wenn das Asylsystem unter Druck gerät – aber nur, so lange tatsächlich genügend Beiträge zusammenkommen. Im echten Krisenfall – etwa einer Flüchtlingskrise wie 2015 – soll die Hilfe verpflichtend sein. Am Dublin-Prinzip will die EU-Kommission dem Bericht zufolge weitgehend festhalten.

Die Abgeordneten des EU-Parlaments setzen darauf, dass der neue Vorschlag Bewegung in den festgefahrenen Konflikt bringt. Sie erhoffe sich einen Neustart in den Verhandlungen der EU-Staaten, sagte die SPD-Politikerin Birgit Sippel der Deutschen Presse-Agentur. „Mit einem neuen Impuls könnte dort hoffentlich Bewegung in die Gespräche kommen und einige Mitgliedstaaten könnten ihre Blockadehaltung aufgeben.“ Der FDP-Politiker Jan-Christoph Oetjen ist optimistisch: „Es ist gut, dass die Kommission endlich das Migrationsthema aufgreift und wir vertrauen (EU-Innenkommissarin) Ylva Johansson, dass sie einen guten Kompromiss vorlegt.“

EU-Kommission: Nicht vergleichbar mit Krise 2015

Die Linken-Abgeordnete Cornelia Ernst warnte hingegen, dass Menschen in Not nicht als „Spielball“ europäischer Politik missbraucht werden dürften. „Jeder Schritt in Richtung noch mehr Festung Europa bedeutet noch mehr Gewalt und Leid an den EU-Außengrenzen, noch mehr Hoffnungslosigkeit und Erniedrigung derjenigen, die auf ein freies und faires Europa setzen. Das ist mit uns nicht zu machen“, sagte Ernst der dpa.

Die Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament, Ska Keller, setzt bei der Verteilung Schutzsuchender auf eine „Koalition der Willigen“, wie sie am Mittwoch im ZDF-„Morgenmagazin“ sagte: „Wie sehr die anderen Mitgliedstaaten ins Gebet genommen werden, das ist noch nicht klar. Aus unserer Sicht wäre es wichtig, dass hier auch einzelne Mitgliedstaaten alleine oder im Verbund zusammengehen in einer Art Koalition der Willigen und den anderen zeigen, es funktioniert, es kann gemacht werden, und da auch eine echte Hilfe anbieten.“

Die EU-Kommission betont immer wieder, dass die EU sich derzeit mit Blick auf die Zahl der Asylbewerber nicht in einer Krise wie 2015 befinde. Damals gab es der EU-Grenzschutzagentur Frontex zufolge mehr als 1,8 Millionen irreguläre Grenzübertritte in die EU und den Schengenraum. 2019 lag der Wert bei rund 139.000. Hinzu kommt, dass 2015 ein Großteil der Menschen schutzberechtigt war.