/ "Eine gespaltene Gesellschaft"
In der Tat ist die Armut in Indien allgegenwärtig, der Kontrast zwischen modernen Hotels bzw. Luxus-Geschäften und dem Leben auf der Straße könnte nicht frappierender sein. In direktem Zusammenhang steht die Armut mit der Bevölkerungsexplosion. Lebten im Jahr 1900 noch 270 Millionen Menschen in Indien und 1950 350 Millionen, so wurde die Milliardengrenze im Mai 2000 erreicht. Die letzte Volkszählung brachte 1,2 Milliarden Einwohner hervor, womit Indien als zweitbevölkerungsreichstes Land der Erde Spitzenreiter China (1,34 Milliarden) so langsam, aber sicher „auf die Pelle“ rückt.
Die verbesserte medizinische Versorgung, eine erfolgreiche Seuchenbekämpfung und ausbleibende akute Hungersnöte haben die Lebenserwartung von 32 Jahren (1950) auf heute 67 Jahre hinaufschnellen lassen. Gleichzeitig hat sich die Geburtenrate zwar stark verringert, liegt aber mit 20,97 je 1.000 Einwohner noch immer auf einem hohen Niveau (zum Vergleich: China 12,29, Luxemburg 11,69). Eine Frau bringt in Indien im Durchschnitt 2,58 Kinder zur Welt (Luxemburg: 1,77).
Zahlenspiel
Schwer verdauliches Zahlenmaterial allemal, weshalb es unser lokaler Reiseführer herunterbricht: „In Indien gibt es 32 Geburten … pro Minute! Jede zweite Sekunde kommt demnach ein Kind zur Welt.“ Noch deutlicher wird er am Beispiel Delhi: „Wir haben hier einen Zuwachs von 3.000 Leuten pro Tag, wenn man Geburten und Zuwanderung zusammennimmt. Demnach wächst Delhi um eine Million Menschen pro Jahr.“ Dabei lebten laut Volkszählung 2011 bereits 16,3 Millionen in der Agglomeration.
Trotzdem ist die Armut nicht nur in Indiens Großstädten augenscheinlich. Dramatischer geht es auf dem Land zu, wo 70 Prozent der Gesamtbevölkerung lebt. Die permanente Ressourcenknappheit macht sich hier besonders bemerkbar. Wasser- und Stromengpässe gibt es zwar auch in den Städten, doch mit weniger dramatischen Folgen als bei den Bauern auf dem Land. Der „Human Development Report“ der Vereinten Nationen hat unlängst herausgefunden, dass die auf dem Land lebenden Armen vor 30 Jahren besser ernährt waren als heute.
Beigeschmack
Und die Politik in alledem? Tageblatt-Kollege Dhiraj Sabharwal – Mutter Luxemburgerin, Vater Inder – drückte es im Dezember 2012 in einem Artikel über sein Vaterland wie folgt aus: „Ich erlebte bereits als Jugendlicher, dass die politischen Entscheidungen der Gandhi-Ära nicht zu den erhofften messianischen Effekten für das ’Schwellenland’ Indien geführt hatten. Obschon sich der Linksruck unter Indira Gandhi – man erinnere an Nationalisierungsmaßnahmen und Steuererhöhungen – an die Allerärmsten richtete, hatte dies für die indische Mittelschicht einen faden Beigeschmack. Wollte man den Analphabeten und Ärmsten wirklich helfen oder ein neues Wählersegment erschließen? Die bis heute anhaltende Dominanz der Gandhi-Familie und ’ihrer’ Kongresspartei an den Wahlurnen spricht Bände. Zurück bleibt eine gespaltene Gesellschaft.“
Und wie die Konsequenzen einer derart gespaltenen Gesellschaft aussehen können, das beschreibt Sabharwal nur wenige Zeilen später: „Zwischen modernen Hotels, einem Meer aus Luxus-Juwelieren und westlich angehauchten Kleidergeschäften versucht sich der einfache Mann heute immer noch auf den traditionellen Märkten, im Transportwesen oder im Tourismusgewerbe durchzuschlagen. Seine Gegenüber sind, ein Blick auf die Forbes-Liste der reichsten Inder genügt, Großindustrielle aus der Welt des Stahls, der Telekommunikation oder der Petrochemie. In diesem Spannungsfeld hat sich eine gut ausgebildete, tolerante, aber politikverdrossene Mittelschicht in den letzten Jahrzehnten herausgebildet.
Von der omnipräsenten Korruption ermüdet, wählen viele dieser Menschen nicht an der Urne, sondern mit ihren Füßen. Mit einem soliden Studium in der Tasche sucht man sein Glück, nicht nur als Rosenverkäufer, sondern in der Informatikbranche und zunehmend auch im Gesundheits- und Finanzwesen im Ausland.“
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