EU-AnnäherungEBRD-Ökonom Peter Tabak empfiehlt dem Westbalkan die konsequentere Umsetzung von Reformen

EU-Annäherung / EBRD-Ökonom Peter Tabak empfiehlt dem Westbalkan die konsequentere Umsetzung von Reformen
Peter Tabak von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung empfiehlt den Balkanstaaten, möglichst schnell Reformen durchzuführen EBRD/Dermot Doorly

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Die Wohlstandskluft zwischen dem Westbalkan und der EU verkleinert sich kaum. Vor dem Westbalkan-Gipfel am heutigen Dienstag in Sofia sprach der Ökonom Peter Tabak von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) mit dem Tageblatt über Probleme und Perspektiven der EU-Anwärter.

Auch Europas Nachzügler werden von den Folgen der Corona-Krise nicht verschont. Von Albanien bis Serbien: Wachstumseinbrüche zwischen 3,5 und 9 Prozent prognostiziert die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) vor dem am heutigen Dienstag in Sofia steigenden Westbalkan-Gipfel für die sechs EU-Anwärter der Region in diesem Jahr. Zwar sei 2021 mit einer Erholung zu rechnen, so der EBRD-Ökonom Peter Tabak gegenüber dem Tageblatt: „Aber das Vorkrisenniveau werden die meisten Westbalkanstaaten erst 2022 wieder erreichen. Das bedeutet für die Region den Verlust von zwei vollen Wachstumsjahren.“

Die durch die Epidemie verursachte Wachstumsdelle macht zwar dem ganzen Kontinent zu schaffen. Doch die Ärmsten treffen Krisen immer besonders hart. Statt der eigentlich nötigen Aufholjagd der Westbalkanstaaten droht sich deren Entwicklungsrückstand gegenüber der EU weiter zu verfestigen.

Nur bei einem dauerhaften Wachstum von mindestens vier Prozent könnte das Sozialprodukt der Westbalkanstaaten „in 40, 50 Jahren“ das EU-Mittel erreichen, rechnet Tabak vor. Doch seit der Finanzkrise von 2008 sei deren Wachstum „sehr schwach“ gewesen. Von 2009 bis 2016 lag das Durchschnittswachstum in der Region gerade einmal bei 1,2 Prozent: „Wir haben ausgerechnet, dass der Westbalkan bei einem solchen Tempo noch 200 Jahre benötigt, um zur EU aufzuschließen.“ Von 2017 bis 2019 lag das Wachstum zwar bei durchschnittlich 3,3 Prozent. Doch selbst in diesem Fall würde die Angleichung der Lebensverhältnisse „rund 80 Jahre“ erfordern, so Tabak.

Für hoffnungslos hält der EBRD-Ökonom die Perspektiven für die Rückstandsregion dennoch keineswegs. Die „größte Triebfeder“ für deren Entwicklung sei noch stets die EU-Beitrittsperspektive. Ein positiver Effekt der Corona-Krise könnte die Verkürzung der Logistikketten sein, die allerdings „noch nicht wirklich zu beobachten“ sei. Die Vorteile des Westbalkans beim sogenannten „Nearshoring“ würden aber auf der Hand liegen. Die Region liege für westliche Konzerne vor der Haustür. Die Lohnkosten seien zum Teil ähnlich gering wie in Asien: „Doch die Transportkosten sind erheblich niedriger.“

Zusammenarbeit in der Region verbessern

Als die größten Hindernisse, die die Entwicklung und die Wirtschaft der Region hemmen, nennt Tabak die mangelhafte Infrastruktur, administrative Hürden, die träge Justiz, aber auch „politische Faktoren“, die den regionalen Handel beeinträchtigen. Um den Beitrittsprozess und das Wachstumstempo zu beschleunigen, sei der Ausbau der Schienen- und Straßennetze mit EU-Hilfen unerlässlich. Doch am meisten würden den Westbalkanstaaten „institutionelle Reformen“ helfen, um ihre Konkurrenzfähigkeit zu verbessern: „Das Wichtigste ist, sich auf die Schaffung von unabhängigen, gut geführten und effektiven Institutionen zu konzentrieren.“

Beim Westbalkan-Gipfel in Sofia will die EU einen neuen Anlauf zur Verbesserung der regionalen Zusammenarbeit in der Region nehmen. Doch ob das 2006 in Kraft getretene Freihandelsabkommen Cefta,  Assoziierungsabkommen mit den Beitrittskandidaten oder EU-Förderprogramme zum Ausbau der Handelswege: Die Effekte der EU-Anstrengungen zur Intensivierung der regionalen Wirtschaftskooperation sind bisher weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. „Ein Wandel der EU-Balkanstrategie ist längst überfällig“, fordert eine im September veröffentlichte Studie des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) und der Bertelsmann-Stiftung.

EBRD-Ökonom Tabak hält den EU-Plan für eine regionale Integration oder die jüngste, von Albanien und Serbien angeregte Initiative zur Schaffung eines „Mini-Schengen“ hingegen für „nützlich und wichtig“. Doch es gehe nicht nur um Initiativen, sondern vor allem um deren Umsetzung: „Diese verläuft auf dem Westbalkan sehr, sehr langsam.“ Wie schnell sich die Westbalkanstaaten der EU annähern könnten, würde nicht zuletzt von ihnen selbst abhängen, so Tabak: „Es hängt davon ab, ob die Politiker tatsächlich den Willen haben, die Institutionen zu verbessern und sich an rechtsstaatliche Grundsätze zu halten.“