Angekommen im MainstreamDrag Queens: Galionsfiguren der LGBTQ-Bewegung

Angekommen im Mainstream / Drag Queens: Galionsfiguren der LGBTQ-Bewegung
Die Castingshow „Ru Paul’s Drag Race“

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Mit Castingshows wie „Ru Paul’s Drag Race“ oder Heidi Klums „Queens of Drag“ ist Drag Queens der Sprung in die heimischen Wohnzimmer geglückt. Dass sich Männer als Frauen verkleiden hat jedoch eine lange Tradition, die vor allem im New Yorker Untergrund der 1980er Jahre die Homosexuellenbewegung prägen sollte. Angekommen im Mainstream stellt sich heute die Frage, welches politische Potential noch übrigbleibt. Eine Einführung.

Seit es Theater gibt, gibt es Drag – die Beweggründe für das Verkleiden und Auftreten im anderen Geschlecht waren damals jedoch andere als heute. Weil es Frauen im antiken Griechenland nicht erlaubt war Theater zu spielen, nahmen Männer stattdessen ihre Rollen ein. Im elisabethanischen Theater Englands verhielt es sich ähnlich: Die großen Frauenfiguren aus Shakespeares Dramen wie Lady Macbeth, Ophelia oder Julia mussten damals von jugendlichen Knaben verkörpert werden, da Frauen der Zugang zur Kunstwelt weiterhin verwehrt wurde. Im Theaterslang wird daher auch die Wortherkunft vermutet: Weil die Frauenkostüme durch ihre langen Schleppen auffielen, verwendete man das englische Wort „drag“ (deutsch: schleppen, hinterherziehen) als Bezeichnung für das Schauspielen im anderen Geschlecht.

Heutzutage sind Frauen ein selbstverständlicher Teil des Theaters, doch Männer, die sich als Frauen verkleiden, gibt es um so mehr – und das ganz unabhängig von der Theaterbranche. Hatte Drag seine Anfänge noch in einer sexistischen Schauspielpraxis, so entwickelt sich das Auftreten im anderen Geschlecht ab dem 20. Jahrhundert zu einer eigenständigen Kunstform. In den 1920er Jahren sind es vor allem Transpersonen und homosexuelle, afro-amerikanische Männer, die in den New Yorker LGBTQ-Kreisen ihrer Zeit in Drag auftreten. Dadurch, dass Homo- und Transsexualität damals noch strafbar waren, bot Drag für viele Menschen einen Raum, erstmals ihr Geschlecht und ihre Sexualität auszuleben. Wer zuvor noch von der Gesellschaft als andersartig stigmatisiert worden war, konnte nun zum ersten Mal ein Gemeinschaftsgefühl erleben.

Drag wurde zum festen Bestandteil der queeren Subkultur und damit auch zunehmend politischer: Es galt, den Spagat zwischen Entertainment und Widerstand zu meistern. Mit Turmfrisuren, Lippenstift und abgeklemmten Genitalien sollte den starren Geschlechtervorstellungen der Gesellschaft getrotzt werden.

Indem Männer mühelos in die Rolle von Frauen schlüpften und weibliche Klischeebilder bedienen konnten, sollte Geschlecht als sozial konstruiert entlarvt werden. Drag war somit als Parodie gedacht, die in ihrer Überinszenierung den performativen Charakter von Geschlecht verdeutlichte.

Hyperfeminine Parodie

Damit widersetzte man sich der Idee von naturgegebenen Geschlechterrollen – also der Annahme, dass gewisse Wesenszüge in der Natur von Frauen oder Männern liegen. Indem Drag Queens typisch weibliche Stereotype aufgriffen, sollten stattdessen die gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit bloßgestellt werden.

Feministinnen sprechen diesbezüglich von „doing gender“ – also wörtlich „Geschlecht machen“ – oder der alltäglichen „Performance von Geschlecht“: Die Unterscheidung zwischen Mann und Frau stellt in unserer Gesellschaft eine der grundlegendsten Orientierungskategorien dar. Frauen und Männern werden dabei jedoch unterschiedliche Rollen und Verhaltensweisen zugeschrieben, an die Geschlechter werden verschiedene Erwartungen gestellt. Die jeweiligen Anforderungen betreffen mehrere Ebenen, darunter Kleidung, Körpergang oder Intonation, jedoch auch Verhaltensweise und Charakter.

Dadurch, dass die meisten Menschen diese Anforderungen bedienen, werden die Vorstellungen von Geschlecht stetig weiter reproduziert – bis diese als natürlich und allgegenwärtig erscheinen. Was passiert jedoch, wenn Männer – entgegen aller Erwartungen – weibliche Rollenanforderungen bedienen und sich als Frau inszenieren – dazu noch bis ins Hyperfeminine überspitzt? Es kommt zu einem Moment der Irritation und Verwunderung. Der Gesellschaft wird der Spiegel vorgehalten: Wenn Stereotype auf Knopfdruck übergestülpt werden können, dann zerbricht damit auch deren Illusion von Natürlichkeit.

Drag als Widerstandspraxis

Dass es vor allem homosexuelle Männer sind, die als Drag Queens auftreten, scheint daher wenig verwunderlich: Die klassische Vorstellung von Männlichkeit – mit der auch das Begehren von Frauen einhergeht – grenzt schwule Männer aus und macht sie zu Außenseitern. Ihre Männlichkeit wird nicht als solche akzeptiert und herabgewürdigt. Um dem entgegenzuwirken, wird die klassische Geschlechterordnung bloßgestellt und hinterfragt: Drag wird zur Widerstandspraxis. Gleichzeitig wird Drag auch zum Zufluchtsort für Menschen, die den Normen des traditionellen Geschlechterverständnisses nicht gerecht werden.

Als sich 1969 in New York die Stonewall-Aufstände zutrugen, bei denen zahlreiche Homo- und Transsexuelle für ihre Rechte kämpften, waren es vor allem Drag Queens wie Martha P. Johnson, die die Bewegung anführten und damit zu einer Galionsfigur der LGBTQ-Bewegung wurden. Ähnlich stark prägten die sogenannten Ball Rooms der 1980er Jahre die Homosexuellenbewegung: Dort trafen sich queere Menschen – darunter auch zahlreiche Schwarze und Latinos – um sich in Kostümier- und Tanzwettbewerben zu beweisen und das Abweichen von der gesellschaftlichen Norm zu feiern.

Sexismus oder Feminismus

Zufluchtsort und Genderillusion hin oder her – vor allem in feministischen Kreisen herrscht Uneinigkeit darüber, ob Drag tatsächlich emanzipatorisch oder vielmehr problematisch ist. Die Feministin Judith Butler bezeichnet Drag als subversiv, weil hier klassische Geschlechternormen sichtbar gemacht werden. Weibliche Rollenbilder werden parodistisch zugespitzt und somit entfremdet, hinterfragt und kritisiert.

Die Frage ist jedoch, ob die Kritik an den gesellschaftlichen Vorstellungen von Weiblichkeit tatsächlich als solche verstanden wird – oder ob sich hier vielmehr über Frauen an sich lustig gemacht wird. Das ist ein maßgeblicher Unterschied, der darüber entscheidet, wie revolutionär Drag tatsächlich ist. Wenn die Kritik nämlich ungesagt oder unerkannt bleibt, dann wirkt Drag in erster Linie nur wie die Verhöhnung von Frauen. Das feministische Potential schwindet, stattdessen werden Frauen die bloße Pointe eines sexistischen Witzes.

Die Sexismusvorwürfe werden zunehmend lauter, seit Drag im Mainstream angekommen ist: In den USA begeistert die Castingshow „Ru Paul’s Drag Race“ die Massen. Dort treten Männer gegeneinander an, um den Titel als beste Drag Queen zu gewinnen. Wer denkt, das sei bloßes TV-Nischenprogramm, irrt gewaltig: Die Show zählt mittlerweile mehr als 15 Staffeln und wurde 45-mal für die Emmy Awards nominiert. Heidi Klum hat sich das amerikanische Hitformat als Vorbild genommen und mit „Queens of Drag“ einen deutschen Ableger geschaffen, der 2019 zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurde.  

Tatsächlich werden in „Ru Paul’s Drag Race“ weibliche Klischeebilder in die Höhe getrieben, mit feministischer Kritik hat das jedoch nur mehr wenig zu tun. Die Frauenbilder, die dort präsentiert werden, sind stets die gleichen: Zicken, Tussen und blonde Dummerchen. Für alternative Rollenentwürfe bleibt kaum Platz, stattdessen werden Frauen auf Oberflächlichkeiten reduziert und nur selten mit positiven Attributen besetzt. Wenn dabei eine subtile Gesellschaftskritik mitschwingt, dann kann das zuweilen lustig und sehr unterhaltsam sein. Wenn die Witze jedoch immer nur auf die Kosten der Frauen gehen und nur selten Kritik an stupiden Geschlechterrollen geübt wird, dann muss man sich die Frage stellen, ob hier nicht das Gegenteil von Empowerment passiert. Drag kann schlussendlich nicht emanzipatorisch sein, wenn er Sexismus verfestigt.

Sprachrohr für die LGBTQ-Szene

Nichtsdestotrotz sind Shows wie „Ru Paul’s Drag Race“ ein Lichtblick am Entertainmenthimmel und kontern den ewig anspruchslosen Primetime-Programmen à la Mario Barth oder „Germany’s next Topmodel“. Für die schwule Szene ist die Serie ein großes Sprachrohr, da sie auch Probleme wie Diskriminierung oder Homophobie thematisiert. Für diese Menschen schafft „Ru Paul’s Drag Race“ Sichtbarkeit und soziale Akzeptanz, was mit der Ankunft im Mainstream zusätzlich bestärkt wird. Das rege Interesse, das an „Ru Paul’s Drag Race“ besteht, hat zudem auch die Türen für eine neue Fernsehlandschaft geöffnet: Immer häufiger werden Serien mit LGBTQ-Fokus oder -Charakteren wie „Pose“, „Queer Eye“ oder „Feel Good“ produziert, was auch daran liegen mag, dass „Ru Paul’s Drag Race“ die gesellschaftliche Auseinandersetzung zu Geschlecht und Sexualität massentauglich gemacht hat.

Dass Drag damit immer bekannter wird, ist in erster Linie begrüßenswert, weil hier Normen verschoben werden und Menschen eine Stimme gegeben wird, die im öffentlichen Fernsehen davor nie eine hatten. Allerdings ist es bedauernswert, dass eine geschlechtliche Vielfalt – mit Ausnahme einiger Ausreißer – auf der Strecke bleibt. Mag es zwar durchaus Queens geben, die in ihren Anliegen politisch und feministisch sind, so wirft „Ru Paul’s Drag Race“ nach mehr als zehn Jahren noch immer mit den ewig gleichen Challenges umher, in denen alte Rollenklischees bedient werden. Sexistische Witze werden bis ins Unendliche wiederholt, sodass auch deren feministische Metaebene letztendlich verloren geht.

Es greift jedoch zu kurz, Drag als Kunstform und Entertainmentformate wie „Ru Paul’s Drag Race“ gleichzustellen: Während Letzteres zu einer riesigen Geldmaschine verkommen ist, ist Drag an sich nach wie vor ein Raum der Entfaltung für all jene, die nicht den gesellschaftlichen Normen entsprechen. Geschlecht kann hier in all seinen Facetten ausgelebt werden, sei es den klassischen Vorstellungen gemäß oder alternativ, indem den Stereotypen getrotzt wird. Wer Drag daher nur auf die Showelemente reduziert – die natürlich ein fester Bestandteil der Kunstform sind und nicht ausgelassen werden dürfen –, vergisst den historischen Werdegang, das umstürzlerische Potenzial und die Freiheitskämpfe, die Drag ausmachen und bis heute prägen.

Ein Hoffnungsschimmer könnten die sogenannten Drag Kings sein – also Frauen, die sich als Männer verkleiden. Diese sind jedoch weit weniger bekannt als ihre Drag-Queen-Kontrahentinnen. Es verhält sich ähnlich wie im Fußball: Während Männer als Drag Queens in ausverkauften Hallen auftreten können, interessieren sich nur die wenigsten für das weibliche Gegenpendant. Das ist schade, weil feministische Statements vor allem in der Drag King Szene gang und gäbe sind. Eine andere Nische sind die Bio Queens: Frauen, die als Drag Queens auftreten, darunter oft auch Transpersonen. 2018 hatte „Ru Paul’s Drag Race“ bekannt gegeben, man wolle auch in Zukunft weiterhin keine Frauen an der Show teilnehmen lassen und damit für Furore gesorgt. „Wenn Männer Drag machen und damit Männlichkeit ablehnen, dann ist das wie Punk Rock“, hieß es damals zur Erklärung. Nach dem Skandal ruderte man zurück und erlaubte zumindest Transfrauen die Teilnahme. Angekommen im Mainstream ist „Ru Paul’s Drag Race“ zwar schon lange kein Punk Rock mehr, könnte es aber wieder werden, wenn kritische Praxis wieder Usus wird – und somit nicht nur traditionelle Männlichkeit abgelehnt wird, sondern ein ganzes System an starren Geschlechterbildern.