Parlament„Die Regierung schließt in dieser Pandemie nichts aus“

Parlament / „Die Regierung schließt in dieser Pandemie nichts aus“
Premierminister Xavier Bettel und Gesundheitsministerin Paulette Lenert verteidigten das Vorgehen der Regierung vor den Abgeordneten Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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Das Parlament hat gestern mit den Stimmen der Mehrheitsparteien die Ausgangssperre und andere Anti-Covid-Maßnahmen gebilligt. Die CSV enthielt sich. Die Regierung schloss weitere Einschränkungen kommende Woche nicht aus.

Noch vor seinem Inkrafttreten heute war das Gesetz im Parlament bereits in Kraft. Wie schon am Vortag trugen gestern nahezu sämtliche Abgeordnete während der Plenarsitzung im Cercle-Gebäude einen Mund- und Nasenschutz. Eine der neuen sanitären Vorgaben sieht für Versammlungen über vier Personen auch bei Einhalten des Zwei-Meter-Abstandes das Maskentragen vor. Zentrale Elemente des neuen Maßnahmenpakets sind die Ausgangssperre von 23 bis 6 Uhr und die Beschränkung von Zusammenkünften im privaten Bereich auf maximal vier zusätzliche Personen neben den im Haushalt lebenden. Erst am Vortag hatte der Staatsrat sein Gutachten abgegeben. Der Gesetzentwurf hätte bereits am Dienstag zur Abstimmung kommen sollen, wurde jedoch wegen Verzögerungen in der Arbeit des Parlamentsausschusses verlegt.

In einer emotionsgeladenen Rede begründete Berichterstatter Mars di Bartolomeo die Notwendigkeit dieser Änderung des erst im Juli überarbeiteten Covid-Gesetzes. Mit Sicherheit werde auch dies nicht das letzte Covid-Gesetz sein, so der LSAP-Abgeordnete. Der Lockdown hätte sich in der ersten Welle bewährt, aber viel Schaden angerichtet. Di Bartolomeo schloss jedoch einen weiteren Lockdown nicht aus. Es müsse alles getan werden, um dies zu verhindern. Dazu sei die Verantwortung aller erfordert. Nicht die Politiker könnten entscheiden, wann die Pandemie vorbei sei. Es brauche einen Ruck durch die Gesellschaft, forderte di Bartolomeo. Auch die, die das bisher noch nicht erkannt haben, müssten einsehen, dass auch sie Teil der Lösung sind, so sein Appell an die Skeptiker und andere Nein-Sager.

Neue Regeln für die Geschäftswelt

Weitere Maßnahmen seien angesichts der steigenden Zahl von Erkrankten und der wachsenden Belegung von Intensivbetten notwendig. Der Gesundheits- und Pflegesektor riskiere unter Druck zu kommen. Die neuen Schutzmaßnahmen sollen dazu beitragen, die Verbreitung des Virus zu bremsen. Wohl schränkten sie Freiheiten ein, gleichzeitig erlaubten sie jedoch weiterhin ein Stück Normalität, so di Bartolomeo mit Blick auf andere Länder, wo einschneidendere Begrenzungen beschlossen wurden.

Neue Bestimmungen betreffen auch die Geschäftswelt. Läden mit über 400 Quadratmetern Verkaufsfläche dürfen nur maximal einen Kunden auf zehn Quadratmeter zulassen. Bei Treffen von mehr als vier Personen gilt Maskenpflicht. Bei Veranstaltungen mit zehn bis hundert Menschen muss zusätzlich dazu die Zwei-Meter-Distanz eingehalten werden. Auch muss jedem ein Sitzplatz zur Verfügung stehen. Ausgenommen von dieser Begrenzung sind Demonstrationen, etwa bei einem Streikaufruf.

Obwohl die CSV seit längerem weitergehende Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-Pandemie forderte, enthielt sie sich gestern bei der Abstimmung. Parteisprecher Claude Wiseler warf der Regierung vor, zu spät zu reagieren. Die Virus-Verbreitung sei derzeit außer Kontrolle, zumal das Nachverfolgen der Infektionsketten nicht mehr funktioniere. Man habe die ruhigeren Monate nicht dazu genutzt, sich auf eine neue Welle vorzubereiten, von der jedoch bekannt war, dass sie kommen werde. Versäumt wurde es, eine ausschließlich Covid-Patienten vorbehaltene Spitalinfrastruktur vorzubereiten. Angesichts überforderter Tracing-Gruppen sei eine Tracing-App dringend notwendig. Die CSV hatte derlei App seit Monaten gefordert. Dass während Monaten sogar eine negative Stimmung gegen derlei App geschürt worden sei, bezeichnete Wiseler als grob fahrlässig. Zusätzliche Maßnahmen zur Viruseindämmung wünschte sich seine Partei auch in anderen Bereichen, etwa beim Schülertransport. Telearbeit sollte verstärkt gefördert werden.

Kritik von Clement an Engelen

Die Sprecher der Mehrheitsfraktionen konnten dem Gesetzentwurf nur Positives abgewinnen. Laut Gilles Baum (DP) müsse ein zweiter Lockdown verhindert werden, deshalb müsse nun etwas kürzergetreten werden. Die zusätzlichen Maßnahmen seien notwendig, auch um das Pflege- und Spitalpersonal zu entlasten. Die Ausgangssperre sei ein Mittel zur Reduzierung der Infektionszahlen.

Die Entscheidung gegen eine Tracing-App rechtfertigte LSAP-Fraktionschef Georges Engel mit dem Hinweis auf die negativen Erfahrungen in Frankreich und Deutschland. Tschechien, das derlei Applikation seit Anbeginn benutzt habe, weise derzeit die höchsten Infektionszuwachsraten auf. Alle bisher von der Regierung getroffenen Maßnahmen seien der landesspezifischen Situation angepasst. Man habe die Krise bisher „exzellent“ gemeistert. Doch auch Engel schloss weitergehende Maßnahmen nicht aus. Die aktuellen reichten, falls die Menschen sie achteten, so Engel optimistisch.

Josée Lorsché („déi gréng“) bezeichnete die angeordnete Ausgangssperre als gravierende Beschneidung der Grundrechte. Doch sei sie zeitlich begrenzt (bis Ende November). Zwischenzeitlich werde auch ihre Wirkung geprüft. Das Recht auf Freiheit dürfe jedoch nicht gegen Recht auf allgemeinen Gesundheitsschutz ausgespielt werden.

Jeff Engelen (ADR) lehnte im Namen seiner Fraktion den Gesetzestext insgesamt ab. Die Begründung: Der Rechtsstaat zähle nicht mehr, das Parlamentsreglement sei angesichts der Eile bei der Verabschiedung des Entwurfs außer Kraft gesetzt worden. Die Ausgangssperre bezeichnete er als sinnlos. Engelen zweifelte die von der Regierung angeführten Zahlen an. Unklar sei, wie viele Menschen mit oder wegen Covid-19 gestorben seien. Die angewandten PCR-Tests würden bis zu 90 Prozent falsche Ergebnisse aufweisen, behauptete er. Eine Aussage, die ihm später scharfe Kritik von Sven Clement (Piratenpartei) einbrachte. Es sei lächerlich, mit solchen offensichtlichen Falschmeldungen zu operieren. Clement sprach von Verantwortungslosigkeit. Warum er denn eine Maske trage, wenn er der Ansicht sei, das Virus sei inexistent, fragte Clement Engelen, der wie die meisten anderen Abgeordneten eine Maske trug, diese jedoch dann ablegte.

Nicht vorbereitet

Dass die Regierung auf die aktuelle Lage nicht vorbereitet war, befand auch Marc Baum („déi Lénk“). Das Frühwarnsystem habe nicht funktioniert. Er werde das Gefühl nicht los, dass die Regierung bei diesem Text „aus der Hëft schéisst“. Er bezweifelte, ob die neuen Maßnahmen insbesondere die Ausgangssperre zielführend und verhältnismäßig seien. Die meisten sozialen Kontakte fänden nicht zwischen 23 und 6 Uhr statt, so Baum. Die Regierung betreibe Symbolpolitik und verfehle ihr Ziel. Statt einer allgemeinen Ausgangssperre befürwortete Baum einen partiellen, staatlichen abgefederten Lockdown, etwa im Gaststättenbereich.

Premierminister Xavier Bettel (DP) und Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) verteidigten das Regierungsvorgehen. Nicht hinnehmbar sei der Vorwurf, die Regierung sei unvorbereitet gewesen. In den vergangenen Monaten seien zusätzliches Material und weitere Geräte bestellt, Notfallpläne für die Spitäler ausgearbeitet, Handlungspläne für die Schulen erstellt worden.

Bettel schloss weitergehende Maßnahmen nicht aus. Mitte nächster Woche werde man die Entwicklung der Zahlen genauer untersuchen. Dann werde man erkennen, ob die bereits vor Tagen erneuerten Appelle an die Bevölkerung zum Einhalten der sanitären Vorsichtsmaßnahmen ihre Früchte getragen haben.

Nicht perfekt, aber performant

Das Frühwarnsystem sei Lenert zufolge wohl nicht perfekt, aber performant. Bereits Mitte Oktober habe man erkannt, dass sich eine schwierige Phase anbahnen würde. Engpässe bei den Teststationen sollen mit der Rekrutierung zusätzlicher Probensammler behoben werden. Den Krankenhäusern würden die geforderten zusätzlichen Mittel bereitgestellt.

Die Regierungsaussagen reichten der Opposition nicht. Der präzisen Frage der CSV, ob kommende Woche ein Lockdown ausgerufen werde, wichen sowohl Bettel als auch Lenert aus. Die Regierung schließe in dieser Pandemie nichts aus, antwortete die Gesundheitsministerin. Abwarten, ob die Zahlen weiter steigen, erst dann werde entschieden, sagte Bettel mit Hinweis auf die Mitte kommender Woche vorliegenden Daten.

Auf Initiative der Piratenpartei wurde über das Ausgehverbot und den globalen Gesetzestext getrennt abgestimmt. In beiden Fällen lautete das Ergebnis: 31-mal Ja, 21 Enthaltungen und achtmal Nein.

Charles Hild
30. Oktober 2020 - 17.39

Leider muss ich ausschliessen, dass endlich mit modernen Mitteln (App) und wirksamen Methoden (ordentliches Schulplanning) gegen das Virus gekämpft wird. Die Kinder sind ja "signifikant" weniger ansteckend. Es gab einmal eine Studie, die hat herausgefunden, dass die Geburten in der Zeit der Störche "signifikant" häufiger sind. Dieses Statistikervokabular ist eben irreführend! Man sollte heute nicht Studien abwarten, sondern die Lage und den Zustand des Landes ansehen und endlich richtig konsequent handeln.

de Prolet
30. Oktober 2020 - 13.43

Wenn die Regierung nichts ausschliesst, soll sie entsprechend handeln und konsequent durchgreifen.