RusslandDie Konfrontation zwischen dem Kreml und seinen Kritikern wird härter

Russland / Die Konfrontation zwischen dem Kreml und seinen Kritikern wird härter
Staat gegen Bürger: Die Kreml-Führung ließ am Samstag bei einer Demonstration gegen Präsident Putin und für die Freilassung des Oppositionellen Alexej Nawalny auf die Kritiker einprügeln Foto: AFP/Kirill Kudryavtsev

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Bei den landesweiten Protestaktionen gegen „Putins Willkürherrschaft“ wurden mehr als 3.000 Menschen festgenommen. Nawalnys Anhänger rufen zu weiteren Kundgebungen am nächsten Wochenende auf – ein ungleicher Kampf, der noch größere Repressionen befürchten lässt.

Für einige Minuten war die Stärke der Demonstranten zu spüren: Auf dem Moskauer Puschkin-Platz, dem Zentrum des Protests, standen Menschen dicht an dicht. „Putin ist ein Dieb!“, „Freiheit für Nawalny!“, skandierte die Menge. Von allen Seiten strömten noch mehr Menschen herbei. Über die breite Twerskaja-Straße, die vom Kreml nach Norden führt, ergoss sich ein Hupkonzert der Unterstützung. Polizeiangaben zufolge gingen am Samstag 4.000 Menschen für die Freilassung Alexej Nawalnys auf die Straße. Das war stark untertrieben. Die Schätzung der Nachrichtenagentur Reuters lautete 40.000. Gemessen an der Einwohnerzahl der russischen Hauptstadt (13 Millionen) war der Protest damit noch immer überschaubar. Aber für Moskauer Demoverhältnisse war die Menschenmenge dennoch beträchtlich.

Ich bin gekommen, um gegen die Gesetzlosigkeit zu demonstrieren

Die 21-jährige Demonstrantin Sonja

Auch in Dutzenden anderen russischen Städten kam es zu Unterstützungsaktionen, zu denen die Anhänger des Oppositionspolitikers nach dessen Festnahme vor mehr als einer Woche aufgerufen hatten. Die Polizei ging hart vor, setzte Gummiknüppel ein. Es gab Verletzte auf beiden Seiten. Landesweit wurden laut der Nichtregierungsorganisation OVD-Info an die 3.300 Menschen festgenommen. Eine sehr hohe Zahl, was von manchen Beobachtern als Anzeichen für ein „belarussisches Szenario“ – also brutale Niederschlagung – gedeutet wurde. Unter den kurzzeitig Festgenommenen waren auch die Ehefrau von Alexej Nawalny, Julia Nawalnaja, und die Nawalny-Mitstreiterin Ljubow Sobol.

„Ich bin gekommen, um gegen die Gesetzlosigkeit zu demonstrieren“, sagte die 21-jährige Sonja gegenüber dem Tageblatt auf dem Puschkin-Platz. Sie wolle nicht länger schweigen. „Ich will ein besseres Leben für mich, meine Eltern, meine Kinder.“ Auffallend war, wie viele junge Menschen sich den Protesten angeschlossen hatten. Für manche war es die erste Demonstration ihres Lebens, andere hatten schon bei den Protesten gegen den Ausschluss unabhängiger Kandidaten bei der Wahl der Moskauer Stadt-Duma vor eineinhalb Jahren Erfahrungen gesammelt. Zuvor hatten die Behörden Eltern ausdrücklich aufgefordert, Kinder und Jugendliche am Wochenende besonders gut zu beaufsichtigen. So wollte man die Teilnahme von Teenagern und Twenty-Somethings verhindern. Geklappt hat das offensichtlich nur bedingt.

„Die Jugend unterstützen“

Auch ältere Moskauer hatten sich auf die Straße gewagt. „Es ist meine Pflicht, die Jugend zu unterstützen“, sagte eine 53-Jährige. Trotz ihrer Zugehörigkeit zur älteren Generation sei sie „nicht mit der Politik Putins einverstanden“. „Nawalny zeigt uns, dass wir keine Angst haben müssen.“

Was sich auf den Straßen Moskaus und in anderen Städten zutrug, war ein starkes Zeichen des Protests. Die jüngsten Recherchen über den Palast des Kreml-Chefs, die Verhaftung Nawalnys nach der Rückkehr aus Deutschland, die höchstwahrscheinliche Verwicklung des Kremls in die Vergiftung des Oppositionsführers: All das empört liberale Russen, lässt sie – nach Monaten des Stillhaltens – auf die Straße gehen.

Ebenso entschieden war allerdings die Reaktion der Behörden. Sie versuchten, das Event möglichst schnell aufzulösen, die Menge zu zerstreuen. Schon vor dem landesweiten Aktionstag war die Polizei gegen die Organisatoren vorgegangen. Da sie zu „illegalen Massenveranstaltungen“ aufgerufen hätten, seien „präventive Maßnahmen“ notwendig. Mehrere Mitarbeiter Nawalnys waren zuvor im ganzen Land festgenommen worden.

Gleichzeitig verstärkten die Behörden Zensurmaßnahmen im Internet. Social-Media-Plattformen wie Facebook, TikTok, Twitter, Google und der russische Anbieter Mail.ru kamen angesichts behördlicher „Warnungen“ unter Druck, Demo-Aufrufe zu löschen. Am Samstag war das Internet im Zentrum Moskaus teilweise lahmgelegt.

Es gibt keinen Zweilfel: Putin will Nawalny für mehrere Jahre hinter Gitter bringen. Der vom Kreml kontrollierte Staatsapparat demonstriert daher maximale Härte. So ließ etwa Generalstaatsanwalt Igor Krasnow gegenüber dem „Kommersant“ schon jetzt keinen Zweifel daran, dass er Nawalny für schuldig hält. „Es gibt jeden Grund, ihn als Person zu bezeichnen, die ein Verbrechen begangen hat“, sagte Krasnow bezüglich einer früheren Bewährungsstrafe, deren Verletzung dem 44-Jährigen vorgeworfen wird.

Apolitische Haltung und schlichte Angst

Russlands drohender Schaden in der internationalen Arena – von Imageproblemen bis hin zu neuen Sanktionen – scheint in der Affäre eingepreist. Auch im Fall Nawalny gilt: Für Kontrollgewinn im Inneren nimmt der Kreml Kollateralschäden in den Außenbeziehungen in Kauf.

Nawalny rief seine Anhänger auf, keine Angst zu haben. „Putin zittert“, sagte er. Die Mutmach- und Mobilisierungstaktik ging in Teilen auf. Die Anhänger des Politikers erschienen in Scharen. Die breite Masse erreichte er am Samstag nicht. Bei vielen Russen überwiegen nach wie vor eine apolitische Haltung und schlicht Angst. Die Behörden konzentrieren ihre Kräfte indes immer mehr darauf, oppositionelle Events im Vorfeld zu verhindern und Nawalnys Netzwerk zu zerschlagen. So sieht kein Apparat aus, der vor dem Gegner zittert. So sieht ein Regime aus, dessen Autoritarismus und Brutalität zunimmt. Die Protestierenden haben mit harter Repression zu rechnen. Und die Bereitschaft zur Konfrontation nimmt auf beiden Seiten zu.

Diese Demo war nicht die letzte. Am nächsten Samstag soll es weitergehen, das gaben die Mitstreiter Nawalnys bekannt. Nach ihrem ersten Erfolg wollen sie den Druck auf den Kreml erhöhen. „Wir machen dem Regime Stress“, erklärte Nawalny-Anhänger und Publizist Fjodor Krascheninnikow im Politik-Podcast des oppositionsnahen Internetmediums „Medusa“. „Früher oder später macht es einen Fehler.“

Auch in Luxemburg hatten sich am Samstag rund 100 im Land lebende russische Staatsbürger zu einer Protestkundgebung vor der russischen Botschaft eingefunden, um die Freilassung des Kremlkritikers Alexej Nawalny zu fordern
Auch in Luxemburg hatten sich am Samstag rund 100 im Land lebende russische Staatsbürger zu einer Protestkundgebung vor der russischen Botschaft eingefunden, um die Freilassung des Kremlkritikers Alexej Nawalny zu fordern Foto : Editpress/Julien Garroy

Festnahmewelle in Russland stößt im Westen auf scharfe Kritik

Die Festnahmewelle bei Massenprotesten von Kreml-Kritikern in Russland – berichtet wird von an die 3.500 Festgenommenen – wirft einen neuen Schatten auf das Verhältnis zwischen der Regierung von Präsident Wladimir Putin und dem Westen. Während die EU-Kommission sowie die USA das Vorgehen der russischen Behörden am Wochenende verurteilten und Frankreich und Italien sogar neue Sanktionen forderten, ließ Putin den Wunsch nach einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit dem neuen US-Präsidenten Joe Biden ausrichten. Das US-Außenministerium verurteilte das „harsche Vorgehen“ gegen die Demonstranten und forderten eine sofortige Freilassung von Nawalny. Der britische Außenminister Dominic Raab kritisierte die Anwendung von Gewalt „gegen friedliche Demonstranten und Journalisten“. Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian rief im Gespräch mit dem Radiosender France Inter gestern zu weiteren Sanktionen gegen Russland auf. Italien erklärte sich zur Unterstützung von EU-Sanktionen bereit, wie Außenminister Luigi Di Maio dem TV-Sender RAI sagte. Der deutsche Europaminister Michael Roth erklärte sich solidarisch „mit denen, die friedlich protestieren und für Meinungsfreiheit einstehen“. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell warf Russland Unverhältnismäßigkeit vor. Am heutigen Montag wollen die EU-Außenminister in einer turnusmäßigen Videokonferenz über aktuelle Fragen beraten, wobei auch die Verhaftung von Nawalny und das Vorgehen der Behörden gegen die Demonstrationen besprochen werden dürften. (Reuters)