StreitgesprächDie Eiserne Lady über Jean Asselborn und Null-Toleranz-Politik

Streitgespräch / Die Eiserne Lady über Jean Asselborn und Null-Toleranz-Politik
Sie gilt als Verkörperung des modernen Austro-Konservativismus: Österreichs Europaministerin Karoline Edtstadler ist politisch knallhart, im Umgang jedoch offen und jovial. Foto: Editpress/Julien Garroy

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Sie wird Eiserne Lady, Null-Toleranz-Lady und vom Boulevard gar die mächtigste Frau Österreichs genannt: Europaministerin Karoline Edtstadler. Sie gilt als Sebastian Kurz’ Vertraute im Kanzleramt – und vertritt in der Migrationspolitik bei fast allem das Gegenteil von Jean Asselborn. Ein Streitgespräch.*

Warum streitet Ihre Regierung so gerne mit Jean Asselborn?

Wir streiten nicht. Demokratien zeichnen sich durch unterschiedliche Meinungen aus. Meinungspluralismus in der EU ist mir ein Anliegen – vor dem Hintergrund nationaler Interessen. Ich verstehe mich sehr gut mit Herrn Asselborn. Er hat eine Art, Dinge prägnant auf den Punkt zu bringen. Die Medien haben Interesse daran, unterschiedliche Meinungen prägnant darzustellen. Das ist nicht zum Schaden aller, oder?

Ich verstehe, warum man Sie Eiserne Lady nennt.

Oh. Gleich bei der ersten Antwort. (lacht)

Sie sind liberal und diplomatisch. Ihre Regierung weniger. Außenminister Alexander Schallenberg hat Jean Asselborn jüngst die kalte Schulter gezeigt.

Ich nehme das fast als Kompliment, dass Sie mich diplomatisch nennen. Ich war Strafrichterin und keine Diplomatin. Wir haben unterschiedliche geografische Situationen in der EU. Wir haben andere Zugänge. Wir haben andere Erfahrungen wegen der Migrationskrise 2015/16. Wir haben unterschiedliche Belastungen, die Länder wie Österreich im Vergleich zu Luxemburg nehmen mussten. Ich sage immer: „Don’t judge someone in whose shoes you didn’t walk.“

Versteht Luxemburg Ihre geopolitische Lage nicht?

Es ist genau das, was ich versucht habe, ihm zu erklären. Wir haben seit 2015 die zweitmeisten Flüchtlinge in Europa aufgenommen. Daraus resultieren riesige Herausforderungen der Integration. Wir haben z.B. über 50 Prozent Jugendliche in der Pflichtschule in Wien, die nicht Deutsch als Muttersprache haben. Es gibt ein Maß, bei dem man nicht mehr kann. Ich werbe für Verständnis. Man kann darüber hinweggehen und sagen: „Das ist nicht so.“ Dann sind wir bei heftigen Diskussionen.

Lassen Sie mich kurz des Teufels Advokat spielen: Sie sagen, Jean Asselborn ist migrationspolitisch im Jahr 2015 hängengeblieben?

Er hat eine klare Meinung. Er ist seit vielen Jahren in der Regierung. Er ist zweifellos einer der erfahrensten Politiker im europäischen Rat. Aber ich sage trotzdem: Er hat nicht immer recht. Da diskutiere ich als ehemalige Richterin. In einem Punkt sind wir uns einig: Wir brauchen ein europäisches Asylsystem. Wenn es ein gemeinsames System gibt, wird es weniger geben, die sich auf den Weg machen nach Europa. Das habe ich auch mit ihm besprochen. Ich war fast zwei Jahre beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Ich weiß, dass es für diejenigen, die keinen Asylgrund haben, auch kein Recht gibt, hier zu bleiben. Herr Asselborn muss sich auch in die Schuhe jener versetzen, die viel getan haben.

Sie nennen es diskutieren, aber eigentlich sagen Sie: „Red du ruhig. Wir schauen, dass wir das jetzt hinkriegen.“

Er kann darüber sprechen, wenn er die gleichen Herausforderungen wie wir hat. Wir hatten Asylverfahren mit über 200.000 Anträgen. Das muss ein Rechtsstaat bewältigen. Und die Menschen, die zu uns kommen, müssen integriert werden. Luxemburg ist wunderschön, aber auch sehr klein. Ich weiß nicht, wie es hier aussähe, wenn Sie so viele Flüchtlinge aufgenommen hätten wie wir. Dann könnte man auf Augenhöhe diskutieren. Es macht keinen Sinn, den Staaten in Osteuropa zu oktroyieren, Flüchtlinge aufnehmen zu müssen. Menschen, die auf illegalem Weg nach Europa kommen, wollen in bestimmte Länder …

… durch die Umverteilung soll das eingedämmt werden.

Das passiert bei der Umverteilung genauso. Wenn ich Staaten die Umverteilung aufzwinge, habe ich eine schlechte Ausgangsposition. Deshalb wollen wir flexible Solidarität. Solidarität kann nicht nur heißen, Flüchtlinge aufzunehmen.

Ihr Solidaritätsbegriff heißt: „Ihr kleinen Luxemburger könnt nicht so viele aufnehmen, Klappe halten.“

Ich glaube schon, dass Sie noch mehr aufnehmen können.

Gemäß Ihrer Logik nicht. Sie sagen, man soll Fluchtursachen bekämpfen und alle weit weghalten …

… auch, ja …

… und die Außengrenzen abschotten.

Es wird immer ein Prozentsatz übrigbleiben, der einen Asylgrund und das Recht hat, hierzubleiben. Diese Menschen können gerne von anderen Ländern aufgenommen werden. Das kann Luxemburg sein. Ich habe mit Jean Asselborn gesprochen. Er hat mir gesagt: „Man musste manchen erklären, wo Luxemburg liegt.“ Jeder kennt Österreich, Schweden und Deutschland. Aber ich rede von jenen, die nicht bleiben dürfen. Bei denen es klar ist, dass sie illegal ohne Asylgrund nach Europa kommen: Man muss ein schnelles Verfahren abwickeln. Einen Schnellcheck für Sicherheit und Gesundheit, wie ihn der aktuelle Vorschlag der EU-Kommission vorsieht. Und dann schnelles Zurückschicken. Das sendet die Botschaft: „Wenn ihr keinen Grund habt, nach Europa zu kommen und kein Recht auf Schutz, kommt ihr nicht durch.“ Das andere Problem ist: Wo bringt man jene mit Schutzstatus unter? Luxemburg hat bei weitem nicht das Gleiche geleistet wie Deutschland, Österreich oder Schweden.

Ist das Hypokrisie?

Bitte?

Ist das eine hypokritische Position der Luxemburger Regierung?

(zögert zum ersten Mal) Also … nochmals: Jean Asselborn ist dafür bekannt, dass er Kritik pointiert auf den Punkt bringt. Also … ich diskutiere ja auch gerne mit ihm.

Ja?

Aber … es ist ein Unterschied im Zugang spürbar. Das sind Dinge, die wir bei den Verhandlungen auflösen müssen. Ich kann Ihnen ein Gegenbeispiel nennen: Wir waren im Gleichklang – was, zugegeben, sehr selten der Fall ist –, was die Corona-Ampel-Schaltung in Europa betrifft.

Das schmerzt auch weniger.

Was schmerzt?

Das Thema.

Das schmerzt gar nicht. Es zeigt nur, dass man in unterschiedlichen Bereichen mal unterschiedlicher, mal gleicher Meinung sein kann. Unterschiedliche Zugänge beleben einen Diskurs.

Von allem nehmen, jeder macht ein wenig mit, viel Abschreckung – so kriegt man Fluchtursachen und -probleme doch nicht bekämpft? Sei es ein Krieg in Syrien oder Schlepper vor der Küste Libyens.

Das Problem ist: Noch nicht alle Staaten machen mit. In einer idealen Welt trägt jeder zu einem europäischen Asylsystem etwas bei.

Das ist doch keine ideale Welt.

Doch. Aus meiner Sicht ist ein europäisches Asylsystem gut und funktioniert, wenn jeder Mitgliedstaat einen Beitrag leistet. Dieser muss flexibel solidarisch sein. Es muss nicht nur heißen, Flüchtlinge aufzunehmen. Sondern auch Außengrenzschutz sicherzustellen, schnelle Verfahren zu ermöglichen, Verhandlungen über die Rückübernahmen mit der EU-Kommission ausarbeiten …

Das funktioniert doch jetzt schon nicht.

Ja, deswegen arbeiten wir an Lösungen. Wenn es schon funktionieren würde, bräuchten wir keinen neuen Vorschlag der EU-Kommission. Den haben wir jetzt auf dem Tisch liegen. Wissen Sie, warum es im Endeffekt funktionieren kann?

Weil Jean Asselborn bis dahin nicht mehr im Amt sein wird.

Weil die Kommunikation nach außen wirkt. Denken Sie an die Zeit der Migrationskrise, als Europa wirklich dicht war. In dieser Zeit kamen die illegalen Fluchtwege nahezu zur Gänze zum Erliegen …

… das stimmt nicht ganz.

Zumindest nach den Informationen, die wir in Österreich von der Polizei und dem Bundesheer haben und mit europäischen Agenturen zusammenarbeiten.

Das stimmt aber nicht ganz für den Zugang aus dem Süden.

Nahezu alle Fluchtrouten – ob über Meer, Landgrenzen oder den Westbalkan – kamen fast zur Gänze, fast, zum Erliegen. Wenn ich hier entsprechend kommuniziere, dass es keinen Weg nach Europa gibt … beziehungsweise wenn ich keinen Fluchtgrund habe, wenn ich keinen Asylgrund habe, komme ich nicht durch nach Europa. Das bewirkt, dass Menschen es weniger versuchen.

Die international anerkannten Fluchtursachen sind bekannt. Was ist für Sie eine legitime Fluchtursache?

Wir haben die Genfer Flüchtlingskonvention …

… ja, das ist nicht meine Frage …

Wir können jetzt darüber reden, ob das noch auf der Höhe der Zeit ist, weil es sich an der Flucht in die Nachbarstaaten orientierte. Aber die Fluchtursachen und Asylgründe sind dort festgelegt: Wenn man verfolgt wird aufgrund der Rasse, Religion oder Angehörigkeit zu einer Minderheit. Wir haben in Österreich unter Beweis gestellt, dass wir ein funktionierendes Asylsystem haben und man einen schnellen Entscheid erhält. Das Problem ist: Diejenigen, die einen negativen Bescheid bekommen, werden zum Teil nicht zurückgenommen, gehen in den Untergrund, weigern sich zurückzukehren und ziehen in Europa weiter.

Sie stellen das Ganze so dar, als ob es sich dabei um den Großteil der Menschen handelt.

Wir wissen, dass immer weniger, die nach dieser Fluchtwelle kamen, einen Fluchtgrund haben. Das zeigen auch die Zahlen in Österreich. Die genauen Zahlen müsste ich nachreichen. Der Großteil von ihnen erhält einen negativen Asylbescheid und hat nicht das Recht, zu bleiben.

Das ist sehr hart. Können Sie sich vorstellen, dass man die Position Ihres Landes – für das man Sympathien pflegt – so sieht?

Sie bezeichnen es als hart. Ich bezeichne es als konsequent und rechtsstaatlich. Ich bin gelernte Juristin …

… das ist doch kein Argument …

… naja, doch. Wenn man einmal Jurist war, legt man das nicht mehr ab. Unabhängig von der Katastrophe, die in Moria passiert ist … ungeachtet dessen, waren manche Lager schon vorher gnadenlos überfüllt. Viele forderten, die Lager in Richtung Festland, dann in Richtung Mitteleuropa zu leeren und mit dem „Relocation“-System in ganz Europa zu verteilen. Was ist das für eine Message? Wir müssen nur an 2015/16 zurückdenken: Warum haben sich die Menschen zu zigtausenden auf den Weg gemacht? Weil es hieß: „Kommt nach Deutschland.“ Das können Sie als knallhart einordnen. Aber es ist auch eine Analyse der jüngeren Geschichte. Das darf uns nicht wieder passieren. Man befördert damit das gruseligste Geschäft, das es gibt. Das habe ich in meiner Zeit beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gesehen und später als Staatssekretärin im Innenministerium: das Geschäft der Schlepper. Sie verkaufen eine Hoffnung. Sie nehmen den Menschen das Letzte aus der Tasche. Diese verkaufen ihr Hab und Gut, stecken es den Schleppern in die Tasche, damit sie auf einem wackeligen Boot nach Europa kommen …

… ja, weil sie kaum legale Einreisemöglichkeiten haben …

Na hören Sie mir mal zu …

… ja, Sie haben jetzt lange geredet …

Diese Menschen stellen fest, wenn das Verfahren rechtsstaatlich abgehandelt wird, dass sie nicht bleiben können. Dann haben sie in ihrer Heimat nichts mehr. Die einzigen, die daran verdient haben, sind die Schlepper.

Sie haben Luxemburgs Position viel kritisiert. Ihre Position ist fast naiver als die unserer Regierung. Sie sagen, niemand kommt, wenn wir keine Anreize bieten. Klar, die Kommunikation 2015 zog die Menschen nach Europa. Aber es ist genauso naiv zu glauben, man  könne Menschen aus solchen Regionen davon abhalten, nach Europa kommen zu wollen – sei es aus klimatischen Ursachen oder kriegsbedingt.

Es gibt Strafgesetze. Mord ist z.B. in Österreich unter Strafe gestellt. Ja, es wird immer wieder Menschen geben, die es trotzdem tun. Aber der Großteil der Leute hält sich an die Regel. Das gilt auch für Migrationspolitik: Wenn ich die Botschaft sende, dass man nicht illegal in Europa bleiben kann, werden es weniger versuchen. Dass alle Mitgliedstaaten nach einer Lösung suchen, ist eine starke Botschaft.

Auch mit der neuen Lösung werden die gleichen Staaten an der Außengrenze mit dem Großteil der Last alleine gelassen. Das ist genauso naiv.

Was wäre denn Ihr Vorschlag, wenn ich mich jetzt in die Gegenposition begeben darf? Das eine ist naiv, das andere ist naiv. Dann wäre die Antwort, wir probieren es lieber gar nicht.

Der Verteilungsschlüssel war eine pragmatische Lösung …

… und dann kommt wer? Jeder, der kommen will – ohne Asylgrund.

Nein, das kann doch über klar geregelte Ankunftspunkte abgewickelt werden.

Jetzt halte ich Ihnen entgegen …

… schießen Sie los …

… das ist genauso naiv. Sie glauben doch nicht im Ernst, wenn sich jemand wegen dem Verteilungsschlüssel in Bulgarien, Estland oder Rumänien niederlassen soll, dass er dort bleibt? Also ist die einzige Antwort ein System, das klarmacht, wann man bleiben darf und wann nicht.

Stören Sie sich daran, mit dieser Politik in der Ecke der strengen Staaten zu stehen?

Ganz im Gegenteil, weil ich auf der Seite der Rechtsstaatlichkeit stehe.

Ja, aber diese Staaten tun dies national zum Teil nicht. Sie sind bei Ihrer Außenpolitik in einer Koalition mit Ländern, die Rechtsstaatlichkeitsprobleme haben.

Ganz ehrlich: Wenn wir die Politik weiterbetreiben … ich würde nicht sagen ausgehend von Luxemburg, aber diese Denkrichtung: „Wir nehmen und geben, ohne zu überprüfen, was dafür geleistet wird.“ Große Gelder werden verteilt, am besten als Finanzhilfen, und eh „Wurscht“, was damit passiert. (…) Dann werden Sie das Gegenpendel haben. Dass irgendwann Staaten, die viel einzahlen, sagen: „Das Geld kommt nicht an.“ Dann haben Sie nationale Bewegungen, die sagen: „Das wollen wir nicht.“

Sie können gut an Fragen vorbei antworten.

Was habe ich nicht beantwortet?

Fühlen Sie sich als Verfechterin der Rechtsstaatlichkeit wohl, auf Staaten mit Rechtsstatlichkeitsproblemen angewiesen zu sein?

Also …

… das widerspricht Ihren grundlegenden Werten.

Nein. Ich sage Ihnen ganz offen: Wir haben 27 Staaten in der EU. Ich wehre mich dagegen, sie in gut und schlecht einzuteilen …

… Sie haben aber unterschiedliche Interessen, was außer- und innerhalb Europas passiert.

Es gibt mehr denn je die Notwendigkeit, mit unterschiedlichen Mitgliedstaaten Allianzen zu schmieden. Das war bei den „Frugalen Vier“ der sparsame Umgang mit Steuergeldern. Da fühle ich mich gut. Im Fall der Migration loten wir mit anderen Staaten deren roten Linien aus. Blicken Sie nach Schweden und fragen Sie, wo deren Integrationsherausforderungen liegen. Da fühle ich mich nicht schlecht, wenn ich mich mit Staaten wie Ungarn in gewissen Bereichen abstimme. Ich habe aber kein Problem damit, deutlich zu sagen, wenn ich nicht mit Ungarn einverstanden bin. Das ist zum Beispiel bei der Frage der Rechtsstaatlichkeit der Fall, wenn es darum geht, eine Konditionalität zwischen dem mehrjährigen Finanzrahmen und der Rechtsstaatlichkeit herzustellen.

Was sendet das für ein Signal an Europa, wenn Österreich mit solchen Staaten kooperiert?

Was ist schlecht daran?

Sie wollen bei der Flüchtlingspolitik wegen der Rechtsstaatlichkeit fast niemanden hier haben. Bei Ländern wie Ungarn heißt es hingegen: „Ja, passt irgendwie.“

Ja. Aber was bewegt Sie dazu, zu sagen mit „solchen Ländern“? Was ist das für eine Konnotation? Das sind vollwertige EU-Mitglieder …

… ja, mit glasklaren Missständen …

Ja, Polen und Ungarn haben Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7 laufen. Ich bin die Erste, die sagt, wir sollten sehen, was passieren muss, damit Ungarn aus so einem Verfahren rauskommt. Aber das ist nicht irgendein EU-Mitgliedstaat. Das ist ein Staat, mit dem wir historische Verbindungen haben. Mit dem wir eine gemeinsame Grenze haben. Während des Lockdowns zeigte sich, dass die Zusammenarbeit essenziell war für Pendler und Unternehmen. Ich verstehe diese Konnotation mit „solchen Ländern“ nicht.

Es ist die Nähe zu einer diskriminierenden Regierung. Seit der Regierung mit FPÖ-Beteiligung unter Heinz-Christian Strache fragt sich jeder: Was passiert gerade in Österreich?

(Die Ministerin, ihr Pressesprecher und Österreichs Botschafterin in Luxemburg blicken zur Uhr)

Die Frage können Sie mir noch beantworten, bevor Sie weglaufen.

Klar.

Wie passt das zusammen, wenn man so eine Regierung hatte und dann mit erhobenem Zeigefinger bei der Rechtsstaatlichkeit auf Ungarn zeigt und bei der Migration äußerst streng ist?

Wer erhebt den Zeigefinger?

Österreich.

Ich erhebe den Zeigefinger? Jetzt müssen Sie mal was erklären. Seien Sie mir nicht böse, aber ich muss Ihnen die Gegenfrage stellen. Auf der einen Seite fragen Sie „Fühlen Sie sich nicht schlecht dabei, mit solchen Ländern zu kooperieren?“, und jetzt sagen Sie mir „Wie geht das, dass Sie mit erhobenem Zeigefinger nach Ungarn zeigen?“.

Sie hatten eine Regierung, die weiter rechts als Ihre aktuelle Regierung stand. Und Sie haben eine Regierung in Ungarn, die auch nicht gerade für Toleranz bekannt ist. Sie fügen sich in eine gewisse Kontinuität ein.

Wir machen als ÖVP eine Mitte-rechts-Politik …

… ja, klassisch konservativ. Das ist nicht FPÖ. Das ist auch nicht der Punkt …

… Sie haben natürlich recht, dass die jetzige Regierung aufgrund der Beteiligung der Grünen anders zu bewerten ist als die Regierung unter FPÖ-Beteiligung. Da muss man nicht darum herumreden.

Aber Sie klingen noch ähnlich. Das ist der Punkt.

Wie bitte? Ich habe mich auch nicht verändert. Ich verändere mich nicht, weil die Regierungsbeteiligung eine andere ist.

Das heißt, Sie sind so hart wie die FPÖ in der Außen- und Migrationspolitik?

Ich stehe zu meinen Werten, zur Rechtsstaatlichkeit.

Halten Sie an der Migrationspolitik Ihrer Vorgängerregierung fest?

Ich halte nicht an der Politik von jemand anderem fest. Ich halte an meiner Politik fest. Ich halte an der Linie fest, die wir mit den Grünen verhandelt haben. Es ist bekannt, dass wir unterschiedliche Zugänge haben. Wir versuchen aber auf europäischer Ebene eine Lösung zu finden.

Wenn man so hart argumentiert: Wie hält man ein diffuses Europa zusammen?

Auf eine Art und Weise, die Sie mehrfach kritisiert haben. Man muss mit anderen Staaten Linien absprechen. Indem man sich Verbündete sucht, abhängig von den verschiedenen Themenbereichen. Dass nicht 27 Einzelmeinungen am Tisch sitzen, wenn man verhandelt. Sondern man weiß: Die Benelux-Staaten haben eine Meinung, die „Frugalen Vier“ haben eine Meinung, die Länder am Mittelmeer haben eine Meinung – „Club Med“ wie man ab und zu liebevoll sagt. Ich erachte das als Zukunftsmodell.

Das funktioniert doch nicht.

Warten Sie mal. Nicht jeder wird sich in allen Punkten durchsetzen. Das ist eine Frage des europäischen Kompromisses. Aber zumindest kennt man größere Blöcke. Der Vorteil: Nicht nur die großen Staaten mit ihrer Meinung dominieren, auch kleinere Staaten können eine entscheidende Rolle spielen.

Das führt zu einer kleinteiligen Logik rivalisierender Grüppchen.

Ganz im Gegenteil. Es sind nicht nur Einzelmeinungen, sondern Linien, die man abstimmt.

Ja, aber sie sind diametral entgegengesetzt. Das passt nicht mehr.

Doch, man kommt mit unterschiedlichen Meinungen an einen Tisch, man formuliert klare rote Linien. Das passiert bei der Migrationsdebatte. Die zuständigen Kommissare sind in alle Mitgliedstaaten gefahren und haben sich diese roten Linien erzählen lassen. Das hat es bis jetzt noch nicht gegeben. Es hat immer Frankreich, Deutschland, Großbritannien und viele Kleinere gegeben, die in ihre Staaten zurückgefahren sind und Brüssel an allem Schuld gaben. Das habe ich immer kritisiert. Das soll es nicht sein.

* Das Gespräch wurde am 14. Oktober am Europäischen Rechnungshof auf Kirchberg geführt, sprich einen Tag nachdem europäische Minister in Luxemburg über die Corona-Ampel diskutierten und Xavier Bettel seine Rede zur Lage der Nation gehalten hatte.

Zur Person

Karoline Edtstadler ist seit Januar 2020 Österreichs Bundesministerin für EU und Verfassung. Sie wurde am 28. März 1981 in Salzburg geboren und absolvierte von 1999 bis 2004 das Studium der Rechtswissenschaften an der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Sie war von 2008 bis 2011 als Richterin am Landesgericht Salzburg tätig und von 2011 bis 2014 als Richterin mit Dienstzuteilung zum Bundesministerium für Justiz. Der Kurier beschreibt diese Zeit wie folgt: „Anfangs belächelt, lehrte sie selbst juristischen Haudegen im Gerichtssaal schnell das Fürchten.“ 2016 entsandte man sie als Expertin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Sie war anschließend in der Bundesregierung Kurz I von 2017 bis Mai 2019 Staatssekretärin im Bundesministerium für Inneres – unter dem hochumstrittenen Innenminister Herbert Kickl. Nach der sogenannten Ibizza-Affäre und monatelangen Kontroversen musste Kickl gehen. Edtstadler war anschließend von Juli 2019 bis Januar 2020 Mitglied des Europaparlaments und Delegationsleiterin der Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Edtstadler gilt trotz ihrer politischen Vergangenheit als überzeugte liberale Europäerin. Sie ist ledig und Mutter eines Sohnes.

Norbert Muhlenbach
2. November 2020 - 17.28

Endlich einmal jemand, der dem HERRN Asselborn Paroli bietet.

J.Scholer
2. November 2020 - 12.44

Herrn Asselborns Kapriolen möchte ich nicht kommentieren, als gewählter Politiker respektiere ich ihn gemäß den demokratischen Gepflogenheiten. Frau Edtstadler und den von Ihnen zitierten Austro-Konservatismus kann ich nur beipflichten. Wir müssen einsehen das System toleranten, freidenkenden ,humanen Gedankengutes gescheitert ist . Europa treibt dem Chaos entgegen.Die Krawallen sind Zeuge, viele Bürger staatliche Autorität nicht mehr anerkennen. Ebenso müssen wir in der Flüchtlingspolitik umdenken,restriktiv die Einwanderungen unterbinden, in den Herkunftsländern helfen die Probleme ,Ursachen zu lösen. Diese Pandemie , die weltweiten, politischen Entwicklungen mit Herren wie Putin, Erdogan,Trump,...die Gefahr bürgerkriegsähnlicher Krawallen, Terror, zeigen uns wie verletzlich Europa ist.Krieg, Terror ,Bürgerkrieg ,Armut nicht mehr im Bereich der Utopie anzusiedeln sind.

trotinette josy
2. November 2020 - 10.40

Frau Edstadler spricht Klartext, kann argumentieren, bleibt souverän und weiss ihre Ansichten darzulegen , nüchtern und sachlich. Eine kompetente Ministerin, die Respekt abverlangt, ob man ihre Meinung teilt oder nicht.

CESHA
2. November 2020 - 9.31

Eine kluge und vernünftige Frau: Hoffentlich kann sie sich durchsetzen.

HTK
2. November 2020 - 9.14

Wissen sie was? Die Dame hat Recht.

GéBé
2. November 2020 - 7.28

Jang ,botz d‘Kaul !