Editorial / Die Chamber muss sich endlich selbst ernst nehmen

Hinterlässt auch aus der Opposition heraus Spuren: Sven Clement, Abgeordneter der Piratenpartei (Foto: Editpress/Julien Garroy)
„Opposition ist scheiße“, wird der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering gerne zitiert. Der Spruch ist einem Machtmenschen kaum zu verdenken. In einer Demokratie gilt aber auch: Opposition ist notwendig. So zu sehen am Gerichtsurteil, das der Pirat Sven Clement in der Causa RTL-Konzessionsvertrag erkämpft hat. Der Oppositionsabgeordnete hat nicht nur Einsicht in das bisher vertrauliche Dokument erhalten. Seine außergewöhnliche Entscheidung, eine politische Frage vor die Justiz zu bringen, wird das Kräfteverhältnis zwischen Parlament und Regierung dauerhaft zugunsten der ersten Gewalt im Staat verschieben.
Der RTL-Konzessionsvertrag steht für fast alles, was das Geschäftsmodell Luxemburg ausmacht: die kurzen Wege zwischen Wirtschaft und Politik, den Pragmatismus, der es erlaubt, den Auftrag eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders an eine private Gesellschaft zu erteilen, sowie eine gute Dosis „das haben wir schon immer so gemacht“. Immerhin geht die Praxis auf die 1930er-Jahre zurück.
Die Opposition wollte Einsicht in die Vereinbarung erhalten. Dies hat die Regierung dem Parlament verweigert: Eine Vertraulichkeitsklausel im Vertrag stünde dem, leider, leider, leider, im Weg. Doch wie soll das Parlament die Regierung überwachen, wenn diese solche Abkommen nicht offenlegen muss, fragte Sven Clement das Verwaltungsgericht. In erster Instanz wurde er noch abgewimmelt – Richter seien für Politik nicht zuständig. Die Berufung war schließlich erfolgreich.
Der Verwaltungsgerichtshof hat der Politik dabei zwei neue Grundsätze ins Heft diktiert. Erstens, nicht alles, was Regierungspolitiker entscheiden, ist auch gleich ein rein politischer Akt, der über einer Prüfung durch die Gerichte steht. Zweitens, die Regierung vertritt zwar den Staat nach außen. Aber auch das Parlament ist Teil der Rechtsperson Staat. Verträge, die im Namen des Staates Luxemburg unterschrieben werden, müssen demnach von beiden Institutionen einsehbar sein – für das „Vivons heureux, vivons caché“-Land eine kleine Revolution.
Für das Parlament gilt es jetzt, der neuen Verantwortung gerecht zu werden. Glücklicherweise warten die Abgeordneten nicht immer auf Außenstehende, um ihre Rolle zu stärken. Mit der geplanten Verfassungsreform soll so auch eine Minderheit (ein Drittel der Abgeordneten) in der Chamber einen Untersuchungsausschuss einsetzen können. Auch der Aufbau eines eigenen wissenschaftlichen Dienstes hat (sehr zögerlich) angefangen. Dies sind Schritte hin zu einem neuen Selbstbewusstsein der Volksvertreter, von denen sich zu viele leider als reine Mehrheitsbeschaffer für die Regierungskoalition verstehen.
Die größte Herausforderung für das Parlament liegt letztlich darin, das eigene Selbstverständnis infrage zu stellen und seine Rolle als erste Gewalt im Staat ernst zu nehmen. Mehrheitsabgeordnete, die nach dem Motto verfahren, „wenn die Regierung das so will und der Staatsrat keine Einwände hat, warum sollte ein Abgeordneter noch groß Fragen stellen?“, sind fehl am Platz.
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Korrektes Zitat von Müntefering : „Opposition ist Mist“.
Es gibt tatsächlich viele Abgeordnete, sogenannte Volksvertreter, die kaum oder selten in der Chamber in Erscheinung treten, lies das Wort ergreifen. Die Kopfnicker oder Hinterbänkler, auch wenn es deren nur 2 Reihen gibt.
KOMMENTAR. …. überflüssig !
Die Abgeordnetenkammer als verlängerter Arm der Regierung mit Alibifunktion uns dem Bürger Glauben zutun in einer Demokratie zu leben. Dies mag nun überspitzt, übertrieben scheinen, aber seien wir ehrlich, bisher konnte die Regierung jegliches Anliegen durch ihre Abgeordnetenmehrheit durchbugsieren.Da kann, könnten die Vorschläge der Oppositionsparteien noch so gut sein, bei der Abstimmung überwiegt der Kadavergehorsam der Abgeordneten der mehrheitlichen Regierungsparteien.