StandpunktDemokratie braucht für den Aufschwung einen starken Mediensektor

Standpunkt / Demokratie braucht für den Aufschwung einen starken Mediensektor
Alle müssen begreifen, dass freie und unabhängige Medien eine Schlüsselrolle spielen – eine Rolle, die die sozialen Medien niemals werden übernehmen können. Foto: dpa-Zentralbi/Hans-Jürgen Wiedl

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Wenn es den Medien nicht gut geht, geht es auch unseren Demokratien nicht gut. Nachdem die Staats- und Regierungschefs im Sommer ein historisches Aufbaupaket zur Bewältigung der Krise beschlossen haben, gilt es nun, ein besonderes Augenmerk auf die Medienindustrie zu richten. Denn vom dramatischen Umsatzrückgang der Branche –in manchen Ländern bis zu 80% – geht eine Gefahr für unsere Demokratien aus.

Die Werte, die unsere Union ausmachen – Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte – dürfen nicht für selbstverständlich genommen werden. Wir müssen für sie kämpfen! So auch für die Freiheit der Medien und den Medienpluralismus, die durch den digitalen Wandel besonders unter Druck geraten sind. Die Situation ist in der Tat paradox. Während Leser-, Zuhörer- und Zuschauerschaft ein Rekordhoch erreicht haben, sind die Umsätze aufgrund der Werbeeinbußen so niedrig wie nie. Zugleich sind Online-Nachrichten für fast die Hälfte der EU-Bürgerinnen und -Bürger zur Hauptinformationsquelle über die nationale und europäische Politik geworden. Die Verlagerung der Nachrichten ins Internet hat viele Medienschaffende zurückgelassen. Obwohl sich viele Medienanbieter dem digitalen Wandel angepasst haben, sind lokale Medienunternehmen, die oft die größte Bürgernähe aufweisen, durch diese Entwicklung in besonderem Maße bedroht.

Digitale Technologien haben neue Formen des Informationszugangs und -austauschs ermöglicht, aber auch neue Risiken für die Meinungsfreiheit und den Pluralismus der Medien mit sich gebracht. Diese Risiken hängen vor allem mit der „Torwächter“-Funktion von Online-Plattformen, ihrer Marktmacht, den riesigen Datenmengen und ihrem Anteil am Werbemarkt zusammen. Mehr als 50% des Online-Werbemarkts entfallen allein auf Facebook und Google. Mit dem geplanten europäischen Rechtsakt für Dienstleistungen im Internet – dem Gesetz über digitale Dienste – sollen diese Probleme angepackt werden. Wir wollen eine Ex-ante-Regulierung vorschlagen, um die durch die Stellung großer Online-Plattformen entstandenen Marktdefizite besser anzugehen. Außerdem werden wir die bestehenden nationalen Rechtsvorschriften zur Medienvielfalt und -konzentration daraufhin prüfen, ob und wie sie die Stimmenvielfalt auf den digitalen Märkten gewährleisten können. Überhaupt ist es von größter Bedeutung, dass wir dieser vom digitalen Wandel betroffenen Branche eine positive Perspektive und einen Weg in die Zukunft eröffnen.

Nur eine Version der Geschichte

Die wirtschaftliche Situation der Medienbranche ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Vor noch nicht allzu langer Zeit wurde von den Medien mancher Länder in Europa nur eine Version der Geschichte erzählt – die, die den Machthabern in die Hände spielte. Der französisch-tschechische Schriftsteller Milan Kundera schrieb: „Die Frage gleicht einem Messer, das die gemalte Leinwand eines Bühnenbildes zerschneidet, damit man sehen kann, was sich dahinter verbirgt.“ Meinungsfreiheit gab es nicht, Kritik war nicht erlaubt – das ist die Definition eines totalitären Regimes. Totalitäre Regime fürchten gut informierte Menschen. Meinungsvielfalt bedeutet breitere Debatten, bringt neue Ideen hervor und ist eine Quelle der Inspiration. Genau das brauchen wir, um uns als Gesellschaft weiterzuentwickeln.

Mit Beginn der Pandemie in China haben wir gesehen, dass Beschränkungen des freien Informationsflusses dramatische Folgen für die Gesundheit und den Schutz der Menschen haben. Mehr denn je hat die Krise gezeigt, dass Meinungsfreiheit, Informationszugang und Medienpluralismus Menschenleben retten können – und der beste Weg sind, Desinformation zu bekämpfen. Deshalb ist es nun höchste Zeit, die Anstrengungen zu verstärken und diese Rechte im Rahmen der Aufbaumaßnahmen zu schützen und zu stärken.

Es bleibt noch viel zu tun

In der Tat gibt es noch viel zu tun. Denn das Bild, das der „Media Pluralism Monitor“ – ein unabhängiger, von der EU mitfinanzierter Bericht – vermittelt, ist alles andere als rosig. Der Bericht zeigt, dass kein Land in Europa vor den Bedrohungen des Medienpluralismus gefeit ist. Journalistinnen und Journalisten sind immer noch verschiedensten Gefahren und Angriffen ausgesetzt – körperlicher Art, aber auch im Netz – und ihre Arbeitsbedingungen haben sich weiter verschlechtert. Mindestens 50 Journalistinnen und Journalisten sowie andere Medienschaffende, die über Proteste in Europa berichtet haben, sind seit Jahresanfang angegriffen worden. Der Bericht macht außerdem deutlich, dass die Medien immer noch Gefahr laufen, unter politische Einflussnahme zu geraten, insbesondere wenn ihre wirtschaftliche Lage unsicher ist. Über die Vergabe von staatlichen Werbeaufträgen kann Druck ausgeübt werden, um Journalistinnen und Journalisten mundtot zu machen und sie davon abzuhalten, unbequeme Fragen zu stellen. Je mehr Fragen man stellt, desto mehr kann man sehen hinter der Leinwand des Bühnenbildes.

Schnelle Lösungen gibt es keine, aber die Europäische Kommission drückt nun aufs Tempo. Wir fordern die Mitgliedstaaten auf, ihre Rechtsvorschriften dringend an die neuen europäischen Vorschriften für audiovisuelle Mediendienste anzupassen. Diese Vorschriften stärken die Unabhängigkeit der Medienregulierungsbehörden, sorgen für mehr Transparenz bei den Eigentumsverhältnissen im Medienbereich, fördern bei On-Demand-Diensten die europäischen Werke stärker und schützen die Bürgerinnen und Bürger – insbesondere Kinder – wirksam vor illegalen und schädlichen Inhalten, auch auf Video-Sharing-Plattformen.

Zudem werden wir zum Jahresende eine Reihe von Vorschlägen vorlegen, um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte zu stärken. Ferner soll der Mediensektor Hilfestellung erhalten, damit er wieder auf die Beine kommen und den digitalen Wandel als Chance nutzen kann. Unser historischer Aufbauplan wird darüber hinaus die Wirtschaft ankurbeln und den Mediensektor – unter vollständiger Wahrung seiner Unabhängigkeit – unterstützen.

Allerdings kann die Kommission diesen Kampf nicht allein gewinnen. Um voranzukommen, brauchen wir die Unterstützung von Regierungen, Politikerinnen und Politikern und Regulierungsbehörden in der Europäischen Union. Alle müssen begreifen, dass freie und unabhängige Medien eine Schlüsselrolle spielen – eine Rolle, die die sozialen Medien niemals werden übernehmen können. Pressefreiheit ist ein Recht, nicht nur für Journalistinnen und Journalisten, sondern für uns alle. Deswegen verpflichten wir uns hier und heute, für freie und pluralistische Medien zu kämpfen.

*Věra Jourová, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission für Werte und Transparenz, und Thierry Breton, EU-Kommissar für den Binnenmarkt.