Zehn Sekunden bis zur Katastrophe

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Zehn Sekunden braucht es für die Katastrophe. Zehn Sekunden, in denen der Zug angeschossen kommt und der erste Waggon in der gefährlichen Kurve aus den Gleisen springt.

Dann zerschellt der Hochgeschwindigkeitszug aus Madrid an der meterhohen Betonwand neben dem Gleis, die umgestürzte Lokomotive knickt einen Strommasten wie ein Streichholz, die Waggons dahinter werden völlig zermalmt. 80 Menschen finden den Tod an dieser Stelle vier Kilometer vor der berühmten spanischen Pilgerstadt Santiago de Compostela.

Das Überwachungsvideo vom Unglücksort, das am Donnerstag im Internet kursierte, schockiert mindestens ebenso wie die Tatsache, dass der Lokführer offenbar mit völlig überhöhter Geschwindigkeit fuhr. Lediglich 80 Stundenkilometer sind in der gefährlichen Kurve vor der nordwestspanischen Stadt erlaubt.

Zu schnell gefahren

„Ich bin 190 (Stundenkilometer) gefahren!“, rief jedoch einer der beiden Lokführer kurz nach dem Unfall aus. Per Funk gab er nach Angaben der spanischen Zeitung „El País“ durch: „Ich hoffe, niemand ist tot, sonst wird das mein Gewissen belasten.“ Der Lokführer, der die Katastrophe verletzt überlebte, sollte noch am Donnerstag von der Polizei verhört werden.

Die spanische Bahn schloss ein technisches Versagen an ihrem Zug jedenfalls aus. Bahnchef Julio Gomez-Pomar Rodriguez versicherte, der Zug sei erst am Morgen vor dem Unglück kontrolliert worden; die Wartung sei „perfekt“ gewesen.

Bekannt wurde aber auch, dass just an der Stelle Unglücksstelle die erst Ende 2011 eröffnete Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Madrid und Santiago endet und dort noch kein automatisches System der Geschwindigkeitskontrolle eingebaut war.

Schock sitzt tief

Der Schock durch die schwerste Zugkatastrophe in Spanien seit 1944 – neben 80 Toten sind auch 178 Verletzte, darunter 36 lebensgefährlich Verletzte, zu beklagen – saß am Donnerstag auch bei den Anwohnern der Unfallstelle noch tief. „Ich hörte etwas wie einen Donnerschlag“, erinnerte sich María Teresa Ramos. „Leute haben geschrien. Ich sah den Zug auf der Seite liegen. Niemand hier hat je so eine Katastrophe gesehen.“

In ihrem Vorgarten sitzend beobachtete Ramos am Donnerstag die Rettungskräfte, die mit zwei riesigen Kränen versuchten, die zerstörten und ineinander verkeilten Waggons zu bergen. Ramos und ihre Freunde waren am Mittwochabend mit Decken und Handtüchern zu der Unfallstelle direkt vor ihrer Haustüre geeilt, um die Opfer zu versorgen.

Der Nachbar half

Ihr Nachbar Martín Rozas half, Verletzte aus den Wracks zu ziehen und Decken über die Toten zu legen. Der 39-jährige Francisco Otero berichtete, Nachbarn hätten mit Spitzhacken, Vorschlaghämmern und Handsägen versucht, Menschen aus dem Zug zu befreien, noch bevor die Rettungskräfte eintrafen. „Das war alles so unwirklich.“ Er sei eine Minute nach dem Unfall vor Ort gewesen: „Das erste, was ich gesehen habe, war die Leiche einer Frau.“
Die Katastrophe ereignete sich just am Vorabend des großen Jakobsfestes, das jedes Jahr am 25. Juli in dem weltberühmten Pilgerort gefeiert wird. Die Weltkulturerbe-Stadt Santiago, in der der Jakobsweg für katholische Pilger endet, sagte das Fest zu Ehren ihres Heiligen sofort ab.

Normalerweise drängen sich Menschenmassen beim Jakobsfest in den engen Gassen der Altstadt rund um die imposante Kathedrale.

Offenbar waren viele junge Leute in dem Zug, die zum Jakobsfest nach Santiago unterwegs waren. Statt einer Feier fand nun in der Kathedrale ein Trauergottesdienst mit hunderten Besuchern statt. Der 38-jährige José Luis Perez zeigte sich dabei tief erschüttert. Der Opfer gedenkend sagte er: „Hoffentlich sind sie im Himmel und genießen ewigen Frieden.“