Viel Ärger um Flüchtlinge

Viel Ärger um Flüchtlinge
(AP)

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Ein "Diktat" sei das, wetterte der slowakische Regierungschef Fico. Daran werde man sich nicht halten. Ein paar Monate später zieht sein Land zusammen mit Ungarn vor das oberste EU-Gericht in Luxemburg. Das soll nun technische Fragen in einem hochpolitischen Streit klären.

Es war ein Rieseneklat: Die EU-Innenminister beschlossen im September 2015 die Flüchtlingsverteilung per Quote. Und zwar nicht im Einvernehmen wie bei grundlegenden Entscheidungen meist üblich, sondern gegen den Willen von vier osteuropäischen Staaten, was für reichlich Verbitterung sorgte. Ungarn und die Slowakei zogen vor Gericht – und an diesem Mittwoch verhandelt der Europäische Gerichtshof in Luxemburg über die Klagen. Ein Überblick.

Wie verteilt werden soll
Die EU setzt in der Flüchtlingskrise mit Hunderttausenden Asylbewerbern auf die Solidarität der Mitgliedstaaten. Bis September 2017 sollen rund 160.000 betroffene Menschen nach einem Schlüssel unter den EU-Ländern verteilt werden.

Nach jüngsten Zahlen vom 5. Mai 2017 wurden von den 160.000 Flüchtlingen gerade einmal 11,3 Prozent in Europa verteilt. Luxemburg nahm bislang 277 Menschen auf. Nach dem Schlüssel müssten weitere 280 Menschen hierher kommen.

Ungarn hat bisher keinen der für das Land errechneten knapp 1300 Geflüchteten aufgenommen. Die Slowakei hat 16 Menschen untergebracht und 40 zusätzliche Plätze angeboten. Fast 900 weitere Flüchtlinge müsste das Land aufnehmen.

Worum geht es bei dem Streit?

Die EU-Staaten haben im September 2015 gegen den Willen der Slowakei, Ungarns, Tschechiens und Rumäniens die Umverteilung von bis zu 120 000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland beschlossen. Dies sollte die beiden Hauptankunftsländer für Bootsflüchtlinge entlasten. Dagegen wehren sich die Regierungen in Bratislava und Budapest nun juristisch. Die Klage richtet sich gegen den Rat als Vertretung der EU-Staaten.

Es geht übrigens eher ums Prinzip als um große Menschenmenschen: Ungarn müsste laut Beschluss bis zu 1294 Menschen aufnehmen, die Slowakei 802 Menschen. Ungarn hat keinen dieser Migranten aufgenommen, die Slowakei 16. Es gibt zwei wesentliche Entscheidungen zur Flüchtlingsverteilung. Die Klagen richten sich nur gegen den umstrittenen September-Beschluss.

Wie argumentieren Ungarn und die Slowakei?

Beide Länder begründen ihre Klagen mit vermeintlichen Formfehlern und zweifeln die Rechtsgrundlage des Beschlusses an. Aus ihrer Sicht steht dieser außerdem im Widerspruch zu der gemeinsamen Gipfelerklärung der europäischen Staats- und Regierungschefs vom Juni 2015. Hinzu kommt eine Reihe mehr oder weniger technischer Punkte – beide Länder versuchen mit breit gestreuten Argumenten, juristische Schwachstellen des unerwünschten Beschlusses aufzudecken.

Wie könnte die Sache ausgehen?

Das bleibt abzuwarten. An diesem Mittwoch findet vor dem Europäischen Gerichtshof lediglich eine Anhörung statt. Mit einem Urteil ist erst in einigen Monaten zu rechnen.

Warum bringt die Flüchtlingsverteilung die Regierung in Bratislava auf die Barrikaden?

Der slowakische Regierungschef Robert Fico steht daheim mit dem Rücken zur Wand und versucht, sich gegen teils deutlich fremdenfeindliche politische Konkurrenten durchzusetzen. Im Parlament sitzen seit der vom Terrorismus- und Flüchtlingsthema dominierten Parlamentswahl im März 2016 zwei rechtspopulistische Parteien und zusätzlich die offen neofaschistisch auftretende „Volkspartei Unsere Slowakei“, die mit rassistischen Parolen zur drittstärksten Oppositionspartei aufgestiegen ist.

In der traditionell pro-europäischen Bevölkerung hat die Flüchtlingskrise Skepsis entstehen lassen. Dass die Slowakei beim Beschluss über die EU-Flüchtlingsquoten einfach überstimmt wurde, haben die Menschen als Schock empfunden.

Und was treibt die ungarische Regierung an?

Ministerpräsident Viktor Orban ist gegen jede Art von Migration, weil er gegen die „Vermischung“ von Völkerschaften ist. „Die ethnische Homogenität muss bewahrt werden!“, fordert er öffentlich. Darüber hinaus betrachtet man in Budapest jede Umverteilungsquote als Einfallstor für spätere aufgezwungene „Massenansiedlungen“ von Fremden.

Justizminister László Trócsányi sagte in einem Zeitungsinterview, Flüchtlingsquoten zur Verteilung in Europa sendeten grundsätzlich ein falsches Signal aus: „Kommt ruhig nach Europa, wir kümmern uns dann um die Verteilung.“ Die Migranten wollten zudem nicht nach Rumänien, Bulgarien oder Ungarn, sondern in andere Länder.

Wie ergeht es Migranten in Ungarn?

Orban und seine Regierung betrachten Flüchtlinge als „illegale Migranten“ und potenzielle Terroristen. Eine Integration von anerkannten Flüchtlingen oder Schutzbedürftigen findet nicht statt und ist auch nicht erwünscht. Seit April werden die wenigen Asylbewerber, die ins Land gelassen werden, in zwei sogenannten Transitzonen unmittelbar an der Grenze zu Serbien festgehalten, das heißt praktisch interniert. Das gilt auch für unbegleitete Minderjährige ab 14 Jahren.

Zuletzt hielten sich in den beiden „Transitzonen“ in Röszke und Tompa 256 Asylbewerber auf, unter ihnen elf unbegleitete Minderjährige. In weiteren Lagern in Ungarn sind noch ein paar Dutzend Flüchtlinge. Die meisten von ihnen ziehen über die offenen Schengen-Binnengrenzen nach Westeuropa weiter.

Und in der Slowakei?

Anders als Ungarn liegt die Slowakei abseits aller wichtigen Flüchtlingsrouten. Es gibt kaum Ausländer im Land. Regierungschef Fico betont immer wieder, es gebe einen klaren Zusammenhang zwischen der „unkontrollierten Immigration“ – er meint den Andrang des Sommers 2015 und der folgenden Monate – und dem Terrorismus. Unter Generalverdacht stehen pauschal muslimische Flüchtlinge.

Die wenigen Migranten, die es ins Land verschlägt, werden in Auffanglager wie beispielsweise Humenne in der Ostslowakei gebracht und dort eher wie Kriminelle als wie Asylbewerber behandelt. Da die Slowakei so unattraktiv für Immigranten ist, stellen sie hier meist keinen Asylantrag, sondern bleiben freiwillig im Status eines wegen illegalen Grenzübertritts Verhafteten – in der Hoffnung, bei einem nächsten Versuch weiter zu kommen als in die Slowakei.