Tutelle: „Ja, es besteht Reformbedarf“

Tutelle: „Ja, es besteht Reformbedarf“
(Tageblatt-Archiv)

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Unabhängig von der „Affaire“ um einen suspendierten Vormundschaftsrichter und laufender Ermittlungen sagt Justizminister Félix Braz über die Tutelle- Gesetzgebung: „Ja, es besteht Reformbedarf.“

In einer sich rasch wandelnden Gesellschaft führt Braz zunächst das Alter der betreffenden Gesetzestexte an: „Sie datieren von 1982. Zudem gibt es seit 2011 die UN-Behindertenrechtskonvention, aus der auch noch Elemente integriert werden müssen. Es besteht also Reformbedarf.“

„Nicht vermischen“

Erstens gelte wie immer die Unschuldsvermutung und zweitens könne er eh nicht Stellung nehmen zu laufenden Ermittlungen, so Félix Braz einleitend im Tageblatt-Gespräch: „Die allgemeine Diskussion über Reformbedarf darf nicht mit möglichen juristischen Problemen eines Richters vermischt werden. Das passiert aber, und es erschwert eigentlich sogar die allgemeine Diskussion“, so Braz.

Der trotzdem froh ist, „dass diese nun öffentlich geführt wird, auch wenn sie sehr schwer ist. Aber es wurde Zeit.“ clc

Es habe auch Vorarbeiten im Ministerium gegeben, so Braz, die nach 2012 allerdings im Sande verlaufen seien. Als einzige punktuelle Änderung sei 2013 per Gesetz ein neues Delikt eingeführt worden, der „abus de faiblesse“.

Schutzfunktion

An erster Stelle weist Félix Braz auf die Zielsetzung der Gesetzestexte hin: „Schutz. Es geht hier um die ‚protection des incapables majeurs‘, das darf man nie vergessen.“ Und weniger gute Absichten könne es schließlich überall geben, auch im Kreis der Familie. Wenn es zu Problemen komme, dann oft wegen Geld, so der Justizminister.
In dieser Hinsicht, unter dem Aspekt von materiellen Werten und „droits patrimoniaux“, ist Braz der Meinung, dass aktuell wohl noch am wenigsten Reformbedarf bestehe: „Hier sind die Texte okay.“

„Wo dagegen sehr viel Bedarf besteht, das ist bei den Persönlichkeitsrechten. Medizinische Probleme, ‚autorité parentale‘ und ‚droits de visite‘, darf eine unter Vormundschaft stehende Person heiraten oder noch eigenständig ein ‚testament de fin de vie‘ erstellen? Usw. … Da sagt das Gesetz fast nichts, es liegt alles im Ermessen der Richter. Hier fordert die Magistratur selbst einen besseren gesetzlichen Rahmen“, erklärt Félix Braz.

Aus- und Weiterbildung

Auch die Aus- und Weiterbildung von Personen, die unter richterlicher Kontrolle eine Tutelle oder Curatelle ausüben bzw. im Rahmen eines Verfahrens ein Gutachten abgeben müssen, sei mit Sicherheit verbesserungsfähig. Braz spricht hier von Anwälten und „assistants sociaux“, aber auch von spezialisierten Organisationen: „Es gibt nicht sehr viele, das ist kein Feld, wo man sich drum reißt. Wir sind froh über alle, die wir haben“, erklärt er angesichts einer stetig steigenden Zahl von Fällen.

Hier kommt man dann auch auf das Thema der Kontrolle zu sprechen: „Die Kontrolle liegt beim Richter. Da scheint klar, dass mehr als nur ein einziger Richter wohl schon eine Hilfe wäre. Aber auch hier spielt Ausbildung eine Rolle, es geht ja nicht nur um Juristisches. Vielleicht könnte auch hier eine größere Gruppe, eine professionelle Einheit, Abhilfe schaffen.“

Immer mehr Fälle

Um Vormundschaften zu übernehmen, gebe es ja schon zwei bis drei spezialisierte Organisationen, „muss man verstärkt diesen Weg gehen, damit nicht nur Einzelpersonen entscheiden? Vielleicht auch eine spezielle Sektion beim SCAS (‚Service central d’assistance sociale‘, d.Red.) ins Leben rufen?“ Beides könnte dann auch zu einer Verbesserung bei der Kontrolle beitragen.

Was das Prinzip des „juge unique“ angeht, so sieht Braz „nicht direkt einen zwingenden Grund“, unbedingt ein Richterkollegium einzuführen: „Einzelrichter gibt es auch auf vielen anderen Gebieten.“ Das anfallende Arbeitsvolumen sei ein anderer Diskussionspunkt. Im Jahr 2014 gab es insgesamt 392 neue Tutelle-Anfragen. Davon betreffend Erwachsene alleine 300 vor dem Tribunal Luxemburg, die von einem einzigen Richter behandelt wurden.

Familie: immer weniger Bereitschaft

Was in der öffentlichen Diskussion ebenfalls oft bemängelt wird, ist die „Einfachheit“, mit der eine Tutelle angefragt werden kann. Hier mahnt Félix Braz zur Vorsicht: „Die Forderung nach Einschränkung mag spontan richtig klingen. Aber dann sind wir wieder bei der Schutzfunktion. Ist man Zeuge einer Situation, in der jemand ausgenutzt wird, ist es doch besser, man meldet dies. Damit hilft man der Person. Ob es nun das Melden ist oder eine Tutelle anfragen: Das muss man abwägen, diesen Kreis sollte man vielleicht nicht zu klein machen.“

Ganz allgemein hält der „déi gréng“-Politiker fest, dass die Problematik immer schwieriger werde: „Oft ist kein Familienmitglied mehr bereit, eine Tutelle zu übernehmen, oder die Familie ist sich uneinig. Also muss man auf Dritte zurückgreifen. Und es werden nicht weniger Fälle, bei steigenden Bevölkerungszahlen und immer älter werdenden Menschen.“

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