Taliban auf dem Vormarsch

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In nicht einmal vier Monaten endet der Nato-Kampfeinsatz in Afghanistan, obwohl die Taliban auf dem Vormarsch sind. In 32 der 34 Provinzen toben Gefechte.

Die Welt blickt auf die Krisen im Irak und in Syrien, in Israel und in der Ukraine. Der Konflikt in Afghanistan ist darüber in den Hintergrund gerückt. Dabei stoßen die Taliban am Hindukusch immer weiter vor – und bringen die heimischen Sicherheitskräfte in arge Bedrängnis. Nicht einmal mehr vier Monate lang können afghanische Polizei und Armee noch auf die Nato-Kampftruppen zählen, deren Auftrag im Dezember endet. Ob es einen Nato-Nachfolgeeinsatz geben wird oder ob die ausländischen Truppen ganz abziehen werden, steht wegen des Wahlchaos immer noch in den Sternen.

Fünf Monate nach der ersten Wahlrunde ist weiterhin unklar, wer Hamid Karsai als Präsident nachfolgen wird. Damit kann die Nato auf ihrem Gipfel an diesem Donnerstag und Freitag in Wales nicht über die geplante Mission „Resolute Support“ (Entschlossene Unterstützung) zur Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte ab 2015 beschließen. Die Zeit, um diesen Einsatz vor Jahresende noch auf die Beine zu stellen, läuft aus. Gute Nachrichten sind das für die Taliban – die die Verunsicherung im Land nutzen, um ihren Kampf zu verstärken.

In der vergangenen Woche kursierten Bilder in sozialen Medien, die die weiße Taliban-Flagge mutmaßlich auf einer früheren Befestigungsanlage der ISAF in der nordafghanischen Provinz Kundus zeigen. Ein hochrangiger Mitarbeiter des deutschen Innenministeriums, der anonym bleiben wollte, sagt der dpa, in der Provinz seien inzwischen 2000 Taliban-Kämpfer unter dem notorischen Kommandeur Mullah Salam aktiv, der bis kurzem noch in pakistanischer Haft war.

Im August sei es den Taliban beinahe gelungen, zwei der sieben Distrikte in der Provinz zu überrennen, sagt der Ministeriums-Mitarbeiter. In der Not habe Innenminister Umer Daudsai den Kommandeur der Nato-Schutztruppe Isaf um Luftunterstützung gebeten – was Präsident Karsai eigentlich untersagt hat. „Der Minister sagte dem (amerikanischen Isaf-)General, wenn wir keine Luftunterstützung erhalten, werden wir diese Distrikte verlieren.“

Taliban errichten mobile Spitäler für ihre Verletzten ein

Und längst nicht nur in Kundus ist die Lage angespannt. Die schweren Gefechte begannen im Juni, als die Taliban den Distrikt Sangin in der südafghanischen Provinz Helmand überrannten. Bis heute dauern die Kämpfe um Sangin an, mehr als 1000 Menschen wurden dort bislang nach Angaben der Provinzregierung getötet. In der Provinz Logar südlich von Kabul griffen erst vor wenigen Tagen Hunderte Taliban-Kämpfer Regierungsziele an. Die Aufständischen hätten sogar mobile Kliniken für ihre verletzten Kämpfer errichtet, sagen Stammesälteste der dpa.

Die Nato wiegelt ab und verweist darauf, dass die Taliban dauerhaft keine Provinz und keinen Distrikt kontrollierten. Das Lagebild aus dem Kabuler Innenministerium klingt bedrohlicher. „Bis auf die Provinzen Pandschir und Bamian gibt es derzeit in allen 34 Provinzen Gefechte“, heißt es dort.

Offiziell veröffentlicht die afghanische Regierung keine Verluste bei Armee und Polizei, um die Truppen nicht zu demoralisieren. Ein hochrangiger Mitarbeiter des afghanischen Verteidigungsministeriums, der anonym bleiben will, sagt der dpa aber, jede Woche würden bis zu 100 Soldaten im Gefecht getötet. „Wenn das anhält, wird es auf lange Sicht schwierig aufrechtzuerhalten sein.“

Strategiewechsel bei den Taliban

Der Afghanistan-Experte der International Crisis Group, Graeme Smith, macht einen Strategiewechsel bei den Taliban aus – weg von der Guerilla-Taktik mit versteckten Sprengfallen, hin zum offenen Gefecht. Von dieser Taktik hatten sich die Taliban wegen hoher Verluste im direkten Kampf gegen die Isaf 2006 eigentlich abgewandt. Der erneute Wandel deutet für Smith auch auf mehr Selbstbewusstsein bei den Aufständischen hin: „Weil man kein Feuergefecht beginnt, wenn man nicht darauf hofft, dieses Gefecht zu gewinnen.“