Mit Verletzungen den Glauben beweisen

Mit Verletzungen den Glauben beweisen
(dpa)

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Sie durchbohren ihre Wangen mit überdimensionalen Nadeln oder stechen sich mit Eisenstangen und bohren noch dickere Stäbe in ihre Körper. Die Derwische im Süden Kosovos wollen damit ihren Glauben an Allah beweisen.

Rund 130 Derwische hocken in der engen Tekke (Moschee) in Prizren im Süden Kosovos auf den Gebetsteppichen und erwarten Scheich Adrihusein Shehu. Der erklärt seinen Anhängern auf Albanisch, Türkisch und Serbisch, dass heute der Geburtstag des Ordensgründers Ali im Jahr 602 gefeiert wird. Und als Höhepunkt der mehrstündigen Zeremonie wiegen sich die Derwische mit Filzkappen auf dem Kopf und in schwarze Talare gekleidet in Trance und verletzten sich mit Eisenstangen. Als Derwische werden islamische Mystiker bezeichnet, die eine dem Sufismus geweihte Lebensform praktizieren.

Der Rufai-Orden ist für diese jährliche Zeremonie weit über die Landesgrenzen bekannt. Während die Derwisch-Orden in der Türkei schon vor etwa 90 Jahren verboten wurden, erfreuen sie sich im Kosovo, aber auch im benachbarten Albanien, Mazedonien und in Bosnien seit Jahrhunderten großer Beliebtheit. Die Derwische gehören der liberaleren islamischen Glaubensrichtung der Sufis an. Toleranz gegen Andersgläubige steht oben auf ihrer Werteskala. Islamische Fundamentalisten und Terroristen sind ihnen ein Gräuel.

„Liebe zu allen Menschen“

Der Scheich im schwarzen Umgang, blass-rosa Unterkleid mit Glitzerornamenten und breitem Ledergürtel betet und singt mit seinen Anhängern unentwegt für zwei Stunden. In einer Predigt ruft er zu Toleranz und „Liebe zu allen Menschen“ auf. Nach dem kräftigen Singen sind die Kehlen heiser und es werden Lutschbonbons verteilt. Eine weitere Stunde später lässt Adrihusein Shehu die Derwische aufstehen, verteilt Trommeln und feuert sie zum ekstatischen Wiegen des ganzen Körpers an.

Er winkt einen vielleicht zehnjährigen Derwisch zu sich heran, befeuchtet eine Art überdimensionierten Schaschlikspieß mit seiner Spucke und steckt ihn dem Jungen durch beide Wangen. Dem Kleinen ist kein Schmerz anzumerken, kein Blut fließt. Seine Trance scheint vollkommen. Er reiht sich mit den durchstochenen Wangen ebenso klaglos in die Reihe der Tänzer ein wie rund zehn weitere junge Männer, die vom Scheich mit den großen Nadeln geschmückt werden.

Kleie Rinnsale mit Blut

Erfahrenere Derwische durchbohren ihre Wangen selbst, andere stoßen sich Eisenstangen in den Leib. Unter den Stakkato-Gesängen und immer heftigeren Tanzbewegungen der übrigen Gläubigen drehen sie sogar Stäbe in ihre Hälse. Der Scheich befreit die jüngeren Derwische wieder von ihren Eisenstäben. Er drückt mit Daumen und Zeigefinger etwa eine Minute auf die Einstichlöcher. Nur selten fließen einige Tropfen Blut – bei den älteren Derwischen mit den Riesenstäben sind es schon kleine Rinnsale.

Der Körper müsse bekämpft werden, um die menschliche Seele zu befreien, erklären ältere Derwische später den Sinn der Zeremonie: „Ist die Seele frei, also bei Gott und in Gott, so hat der Mensch den Körper und damit seine biochemischen Funktionen und den Verstand überwunden“. An medizinischen Erklärungen mangelt es nicht. Durch den langen ekstatischen Tanz weiche das Blut aus bestimmten Körperteilen und konzentriere sich in der Mitte. Doch ein Mysterium bleibt.