Wohnen darf kein Hürdenlauf sein

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Viele Menschen mit Behinderungen leben in Luxemburg in nicht adäquaten Wohnverhältnissen. Ein selbstbestimmtes Leben wird ihnen dadurch verwehrt. Eine neue UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen macht zwar Hoffnung, doch bis zu einer wahren Gleich stellung aller ist es noch ein langer Weg. Stefan Osorio-König, Text und Fotos

LUXEMBURG – Es ist 11.15 Uhr. Das Telefon klingelt in der Wohnung von Joël Delvaux im Gaspericher Viertel „Sauerwiss“. Flink hebt der 36-Jährige ein chinesisches Essstäbchen, an dessen anderen Ende eine Gumminoppe angebracht ist, mit dem Mund auf und zieht damit das schnurlose Telefon über den Küchentisch zu sich heran. „So mach ich das immer“, sagt Delvaux und antwortet dem Anrufer.
Seit seiner Geburt lebt Joël Delvaux mit einer Behinderung. Seine Gelenke sind versteift und seine Muskeln haben sich nicht voll entwickelt.
In seiner Wohnung und im Viertel „Sauerwiss“ bewegt er sich mit seinem Rollstuhl problemlos. „Für Menschen, die im Rollstuhl sitzen, ist es ganz wichtig, dass die Wohnung bestimmte Merkmale aufweist“, so Delvaux.
Dazu gehört unter anderem, dass die Wohnung auf einer Ebene und ohne Stufen und auch der Aufzug direkt zugänglich ist. Auch die Türen müssen breit genug sein, damit man mit dem Rollstuhl durchkommt, ohne Gefahr zu laufen, anzustoßen. „Am besten ist es, wenn Türen, dort wo es möglich ist, ganz weggelassen werden“, so Delvaux.
Ganz wichtig sind aber auch entsprechende Sanitäranlagen. Dazu gehören die Armlehnen der Toilette genauso wie ein ebenerdiger Zugang zur und ein Sitz in der Dusche. Auch das Waschbecken muss der Höhe des Rollstuhls angepasst oder höhenverstellbar sein.
In Delvaux’ Badezimmer ist der Spiegel über dem Waschbecken kippbar. „Das erscheint im Prinzip völlig unwesentlich“, so Delvaux weiter, „aber so kann man den Spiegel immer so einstellen, wie man ihn braucht“.
Es ist 11.45 Uhr. Joël Delvaux bereitet sich vor, seine Wohnung zu verlassen. Per Fernbedienung knipst er das Licht aus und aktiviert den Motor der Wohnungstür, die sich summend langsam öffnet.
Doch die meisten Menschen mit Gehbehinderungen in Luxemburg leben in Wohnungen, die alles andere sind, als an ihre spezifischen Bedürfnisse angepasst.
Nur noch selten und unter Schmerzen verlässt Jean-Pierre H. (*) seine Wohnung im dritten Stock eines Wohngebäudes in Luxemburg. Der 52-Jährige sitzt seit einem Unfall vor zehn Jahren im Rollstuhl und kann nur mühsam mit einer Gehhilfe auf die Straßen gehen. „Schon seit Jahren warte ich auf eine behindertengerechte Wohnung mit Zugang zu einem Aufzug“, erzählt H., „habe bis jetzt aber noch keine bekommen. Deswegen habe ich kaum die Möglichkeit, mal spazieren zu gehen, mich mit Freunden zu treffen oder selbst einzukaufen.“
Joël Delvaux, der bei Info-Handicap arbeitet, kennt diese Probleme. „Es gibt in Luxemburg viel zu wenige behindertengerechte Wohnungen.“ Im Viertel „Sauerwiss“ gibt es insgesamt zehn solche Wohneinheiten. Doch das ist angesichts der Zahl von Menschen mit Gehbehinderungen verschwindend gering. Eine UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen soll aber bald Abhilfe schaffen, sobald diese durch nationale Maßnahmen mit Leben erfüllt wird. So legt die Konvention auch einen besonderen Akzent auf angepassten Wohnraum.
In Artikel 9 heißt es dort unter anderem „Afin de permettre aux personnes handicapées de vivre de façon indépendante … les Etats parties prennent des mesures appropriées pour leur assurer … l’accès … aux bâtiments, à la voirie, aux transports et autres équipements intérieurs ou extérieurs, y compris les écoles, les logements.“
Das Viertel „Sauerwiss“ hat in Luxemburg sicherlich Vorzeigecharakter. Alle Gebäude sind ohne Stufen zugänglich, der Niveauunterschied zwischen der rue Gioacchino Rossini und der rue de Gasperich wird neben Treppen auch durch Rampen für Rollstuhlfahrer überwunden. Diese Rampen haben zudem die richtige Neigung sowie ebenerdige Ruhezonen.
Geschäfte, Arztpraxen, die Apotheke, ein Restaurant und eine Bank sind ebenfalls für Rollstuhlfahrer mühelos zugänglich. „Doch sobald man aus dem Viertel raus will, fangen die Probleme an“, erzählt Delvaux.
Schon auf der anderen Seite des Zebrastreifens beim Kreisverkehr in der rue de Gasperich ist der Bordstein so hoch, dass viele Rollstühle nicht darüber fahren können.
Ein Bäcker, ein Metzger, ein Zeitungsgeschäft: alle haben ein, zwei oder drei Stufen vor ihrer Eingangstür.
„Es nützt nicht viel, dass wir zwar behindertengerechte Wohnungen haben, wenn wir sie aber verlassen wollen, uns sich plötzlich unüberwindbare Hindernisse auftun“, so Delvaux. „Erst wenn alle öffentlich zugänglichen Gebäude auch für Menschen mit Behinderungen barrierefrei zugänglich sein werden, haben wir eine tatsächliche Gleichstellung von nicht behinderten und Menschen mit Behinderungen erreicht.“

(*) Name und Situation von der Redaktion geändert

NÜTZLICHE ADRESSEN

o Info-Handicap
65, avenue de la Gare
L-1611 Luxembourg
Tel.: 36 64 66-1
www.info-handicap.lu

o Fondation Kräizbierg route de Zoufftgen
L-3401 Dudelange
Tel.: 52 43 52-1

o Le Fonds du Logement
74 Mühlenweg
L-2155 Luxembourg
Tel. 26 26 44-1

o Tricentenaire asbl.
3, rue de la Gare
L-7228 Helmsingen
Tel.: 33 22 33-510