Von der Straße gezeichnet

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In Luxemburg leben Schätzungen zufolge über 270 Menschen auf der Straße. Wir haben uns mit einigen von ihnen unterhalten.

In Luxemburg leben Schätzungen zufolge über 270 Menschen auf der Straße. Wir haben uns mit einigen von ihnen unterhalten – zum Teil auch mit solchen, die die Kälte einer Notunterkunft vorziehen.

Von Melody Hansen

George Nixon

Heute hilft er anderen …
George Nixon versteht diejenigen gut, die nicht in einer Notunterkunft übernachten wollen. „Man ist nie allein, hat nie seine Ruhe“, erinnert er sich an die Zeit, in der er selbst noch auf der Straße gelebt hat. Heute ist er Mitarbeiter bei der „Stëmm vun der Strooss“. Der gebürtige Kanadier hilft vor allem denjenigen, die sich nicht helfen lassen wollen, denn früher sei er selbst so gewesen. „Wenn man mir damals gesagt hat, ich solle mit in eine Notunterkunft kommen, dann habe ich mich auch immer geweigert.“ Vor drei Jahren hat er einen Freund an die Kälte verloren: „Zuerst hat er einige Zehen verloren, dann den ganzen Fuß. Später auch sein Auge. Aber er wollte nie in eine Notunterkunft. Vor drei Jahren ist er dann draußen erfroren. Ich habe ihn gefunden“, erzählt er gefasst. „Auf der Straße ist jeder für sich selbst verantwortlich. Man kann versuchen, zu helfen, doch wenn jemand keine Hilfe will, kann man nichts tun.“ George unterrichtet junge Sozialarbeiter genau darin: Wie hilft man jenen, die keine Hilfe annehmen? Er weiß jedenfalls genau, von was er spricht.


Pedro (36): „Versuche, wieder auf die Beine zu kommen“

Pedro kam im Alter von neun Jahren mit seinen Eltern aus Portugal nach Luxemburg. Der junge Mann wirkt souverän, seine dunklen Haare sind stilvoll nach hinten gekämmt. Nach einer harten Scheidung von seiner damaligen Frau hatte er eine Menge Schulden. Es folgten Gehaltspfändungen. „Ich konnte meine Miete nicht mehr zahlen, sodass ich meine Wohnung verlor“, erzählt der 36-Jährige. Nachdem er keine Adresse mehr hatte, kündigte ihm sein Chef. Als er beim Sozialbüro in Colmar-Berg, wo er ein Jahr lang angemeldet war, um Hilfe bat, wurde er weitergeschickt. „Weil ich erwähnte, dass meine Schwester in Larochette wohnt, schickten sie mich in das dortige Sozialbüro. Hier behaupteten sie erneut, sie seien nicht zuständig, weil ich keine sechs Monate in der Gemeinde gelebt habe.“ Danach habe er versucht, bei Freunden zu übernachten. Weil diese allerdings nur Mieter waren, habe der Vermieter ihn immer wieder rausgeschmissen. „Ich finde es traurig, dass Menschen, die einem helfen wollen, nicht helfen dürfen“, bedauert er. Mittlerweile hat Pedro seine Adresse im „Foyer Abrisud“ in Esch. Er kann sich also jetzt beim Arbeitsamt melden und Arbeitslosengeld beantragen. „Ich versuche, jetzt wieder auf die Beine zu kommen, und bin wirklich froh, dass es die Notunterkunft gibt.“


Alice (27): „Mit den falschen Leuten in Kontakt“

Die erst 27-jährige Alice wirkt aufgeweckt und stilsicher. Sie trägt eine rote Fliege zu ihrer weiten Bluse. Ihre Haare im Zopf, darunter ein moderner Undercut. Dass sie wegen Alkoholproblemen auf der Straße landete, würde man nicht vermuten. „Ich habe immer bei der Gemeinde in der Stadt Luxemburg gearbeitet. Dann kam ich mit den falschen Leuten in Kontakt. Sie waren kein guter Umgang für mich“, erzählt Alice. Sie sei aufgrund des Trinkens irgendwann einfach nicht mehr zur Arbeit erschienen. Auch mit den Nachbarn gab es Stress, weil sie in betrunkenem Zustand Lärm machte.

„Damals war ich mir dessen gar nicht bewusst, weil ich so betrunken war“, bedauert sie heute. „Ich habe alles verloren.“ Weil sich die Nachbarn so oft beschwerten, wurde ihr der Mietvertrag irgendwann gekündigt. Danach hat sie abwechselnd bei Freunden und auf der Straße geschlafen – vor zwei Jahren auch bei Minusgraden. „Eines Tages habe ich beschlossen, etwas zu ändern. Für meine Gesundheit, um mein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen und auch für meine Freundin, mit der ich jetzt schon seit vier Jahren zusammen bin“, erinnert sie sich. Seit vier Monaten ist sie nun trocken. Auch sie hat ihre Adresse beim „Foyer Abrisud“ und bereits einige Bewerbungsgespräche hinter sich. „Man muss sich zwischen dem guten und dem schlechten Leben entscheiden“, sagt die quirlige Frau, „Ich habe mich für das gute Leben entschieden.“


Mike (36): „Zuerst eine Art Couchsurfing“

Mike stand oft genug vor Bürgermeisterin Lydie Polfers Büro, um Hilfe zu bekommen. Sie hatte ein offenes Ohr und half ihm und vier anderen Obdachlosen, deren Wunsch es war, endlich wieder auf die Beine zu kommen. Seit drei Jahren leben sie nun in einer Wohngemeinschaft in einem Haus, das zuvor leer stand und ihnen von der Stadt Luxemburg zur Verfügung gestellt wurde. Davor lebte Mike zehn Jahre lang auf der Straße und auch heute hält er sich noch regelmäßig an den Treffpunkten der Obdachlosen auf. „Angefangen hat alles mit Problemen mit der Familie“, erinnert sich Mike, der aus gutem Hause kommt, wie er selbst sagt. „Es war zuerst eine Art Couchsurfing“, erzählt er und lacht. „Ich habe mal hier, mal da übernachtet. Doch dann hatte ich Blut geleckt und wollte überhaupt nicht mehr zurück. Ich habe einfach gesehen, wie scheiße es überall ist und dass nicht viel getan wird. Ich habe dann auch lange Zeit gar nicht mehr nach einer Wohnung gesucht.“

Das Beste an der Straße ist seiner Meinung nach, „dass man sich, egal wo jemand herkommt, früher oder später immer anfreundet“. Damals weigerte er sich, in einer Notunterkunft zu übernachten: „Ich will einfach frei sein. Man ist nie allein, hat nie seine Ruhe. Dazu kommt, dass man das Gebäude morgens verlassen muss und erst abends wiederkommen darf. Meinen Hund durfte ich damals auch nicht mitnehmen“, zählt er die Gründe auf, weshalb er die Straße stets vorgezogen hat. Mittlerweile gebe es zwar Anlaufstellen, zu denen man auch den Hund mitbringen darf, das sei aber immer noch nicht ideal, sagt Mike. „Natürlich fand ich es nicht toll, im Winter auf der Straße zu erfrieren und im Zelt zu übernachten.“ Richtige Erfrierungen habe er noch nie gehabt. Dafür aber einen heftigen Fußpilz – aufgrund mangelnder Hygiene und weil er seine Socken und Schuhe nie ausgezogen habe: „Das hat so gebrannt, dass ich fast nicht mehr laufen konnte. Damals hat mir die ‚Stëmm vun der Strooss‘ dann geholfen. Ich erhielt eine Art Gutschein, um mir in der Apotheke ein Puder zu holen. Danach ging es mir besser.“


Szalbolcs (31): „Schlafe lieber in der Kälte“

Szabolcs kommt aus Ungarn und lebt seit einiger Zeit auf der Straße. Wie lange genau, sagt er nicht. 2012 sei er auf der Suche nach einem besseren Leben nach Luxemburg gekommen. Zu Beginn habe er das auch gehabt. Mit seiner Ehefrau teilte er sich eine Wohnung in Luxemburg. Die Abwärtsspirale begann, als er sich von ihr trennte. „Sie war keine gute Frau, aber ich war vielleicht auch nicht immer ein guter Mann“, sagt er. Nach der Trennung ist er umgezogen, hat seinen Job verloren und angefangen, zu trinken. Dadurch hat er dann auch sein Zuhause verloren.

Bis heute hat er keine feste Adresse und schläft auf der Straße. Ein Teufelskreis, denn ohne Adresse kann man weder Arbeitslosengeld beantragen, noch sich beim Arbeitsamt melden. Eine Notunterkunft kommt für ihn trotz der eisigen Temperaturen nicht infrage: „Ich kann nicht mit anderen in einem Zimmer schlafen. Da schlafe ich lieber in der Kälte“, sagt er mit fester Überzeugung. Ich frage, ob er denn schon Angst gehabt habe, zu erfrieren. „Ich habe nie Angst“, antwortet er hierauf. Jeden Abend suche er sich eine andere Lösung. Ein Versteck, an dem es windstill und ruhig ist. Aber immer erst nach Mitternacht, denn davor habe man seine Ruhe nicht, erzählt er. Dann legt er sich in seinen Schlafsack und schläft bis mittags um 12 Uhr. Drei Mal in der Woche arbeitet er in der Küche bei der „Stëmm vun der Strooss“. Mit dem Geld, das er dort verdient, will er sich eine eigene Wohnung mieten. „Ich informiere mich jeden Tag in der Zeitung darüber, ob es günstige Wohnungen gibt. Ich will unbedingt raus aus dieser Situation.“ Das Trinken habe er aufgegeben, sagt er.


„Das Thema ist kein Tabu mehr“

 

Im April werden es 20 Jahre, dass sich Alexandra Oxacelay im Rahmen der „Stëmm vun der Strooss“ für Bedürftige und Obdachlose einsetzt. Seitdem hat sich die Szene stark verändert.

Tageblatt: Welche Änderungen hat die Obdachlosen-Szene in den letzten Jahren durchlaufen?
Alexandra Oxacelay: Die Szene ist jünger und internationaler geworden. Die Leute kommen von überall her. Früher war die Szene sesshafter, um es mal so zu formulieren. Zudem fällt auf, dass die Aggressivität allgemein zugenommen hat. Das hat zum Beispiel bei der „Stëmm vun der Strooss“ dazu geführt, dass wir eine Sicherheitsfirma damit beauftragt haben, für mehr Ruhe zu sorgen.

Was ist Ihnen noch aufgefallen?
Dieser internationale Aspekt ist wie gesagt neu. Die Obdachlose wandern quer durch Europa und lassen sich mal hier, mal da immer für ein paar Wochen oder Monate nieder. Ich habe auch das Gefühl, dass Obdachlosigkeit kein Tabuthema mehr ist.

Wie ist es um die Solidarität bestellt?
Die Solidarität hat zugenommen. Vielleicht oder gerade auch deswegen, weil das Thema kein Tabuthema mehr ist. Viele Schulklassen und auch immer mehr Unternehmen engagieren sich im Rahmen dessen, was man „responsabilité sociale“ nennt. Ungeachtet davon ist es aber so, dass wir in den ganzen Einrichtungen immer noch nicht ausreichend Platz haben. Der Andrang ist größer als die Anzahl an Betten und Unterkünften, die uns zur Verfügung stehen.

Wovon träumen Sie?
Ich träume davon, dass die „Wanteraktioun“ nicht nur vom 1. Dezember bis zum 31. März dauert, sondern das ganze Jahr über. Es ist ja nicht so, dass es im Sommer keine Obdachlosen gibt. Ihre Situation ist allerdings nicht so prekär wie jetzt bei diesen tiefen Minustemperaturen.