LEITARTIKEL /Im Reich der Mittel

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Während in Luxemburg noch immer das Tour-de-France-Fieber grassiert, wirft das nächste sportliche Großereignis seinen Schatten voraus. In knapp zwei Wochen werden in Peking die Olympischen Sommerspiele eröffnet und die internationalen Medien fokussieren sich verstärkt auf die sportlichen Schattenseiten des Gastgebers./Philip Michel


In den vergangenen zwei Tagen sorgten zwei Berichte der öffentlich-rechtlichen TV-Sender Deutschlands für reichlich Diskussionsstoff. Und auch wenn die ARD-Reportage „Im Reich der Mittel“ sowie der ZDF-Film „Die großen Träume der Kleinen“ zum größten Teil Altbekanntes zu berichten wussten, so hatten beide Beiträge zur späten Sendezeit doch reichlich Gruselpotenzial.
Erste Erkenntnis: In China ist nichts unmöglich. Da bieten Ärzte in einem Krankenhaus einem als Schwimmtrainer getarnten Reporter für 24.000 Dollar eine Stammzellentherapie zur Leistungssteigerung an. Erfahrungen mit der Behandlung von Sportlern gebe es zwar nicht, doch die Aktion sei völlig sicher, beteuert der chinesische Doktor. Das Schreckgespenst Gen-Doping schwebt demnach nicht mehr nur als Geist durch die Sportwelt, es ist konkret geworden!
Dass sich Doping-Präparate in China problemlos besorgen lassen, überrascht derweil weniger. Für 150 Euro gibt es 100 Gramm einer Dopingsubstanz, die im Westen wohl bis zu 40.000 Euro wert wäre. Bemerkenswerter sind da schon die Worte des Verkäufers: „Weil das ein Dopingmittel ist, dürfen wir es um die Olympischen Spiele herum nicht verkaufen. Danach geht es wieder einfacher.“ Dazu passen die Worte von Cui Dalin, Chinas stellvertretendem Sportminister. Der beteuerte unlängst auf einer Pressekonferenz, dass das chinesische Olympiateam dopingfrei sei.

Versager gelten nichts

Was allerdings zu bezweifeln ist. Denn auch wenn sich die Gastgeber bescheiden geben, peilt die chinesische Olympiamannschaft doch Platz eins in der Medaillenwertung an. Geht das ohne Doping? Nein, aber ohne positiven Dopingfall schon. Für das chinesische Selbstverständnis gibt es nichts Schlimmeres, als sein Gesicht zu verlieren. Und so werden die Verantwortlichen schon dafür sorgen, dass keiner der einheimischen Athleten zum Zeitpunkt der Spiele positiv getestet werden kann. Nach dem Motto „nur die Dümmsten werden erwischt“ lässt sich Doping nämlich ziemlich gut planen und dosieren, vor allem wenn man seine Athleten in so konsequenter Weise von der Außenwelt abschottet, wie die Chinesen das tun.
Und dennoch muss man vorsichtig mit Pauschalisierungen sein: Dass im ARD-Beitrag ein chinesisches Opfer von Kinder-Doping auspackt, muss nicht heißen, dass in China auch heute noch alles getan wird, was die Leistung steigert (und die Gesundheit ruiniert).
Zweite Erkenntnis: Versager gelten in China nichts. Für das große Ziel, einmal Olympiasieger zu werden, erdulden Kinder im Li-Xiaoshuang-Sportinternat Tag für Tag psychische und physische Schmerzen. Ein erbarmungsloses Ausleseverfahren kennzeichnet die berühmt-berüchtigte Kaderschmiede Chinas. Der jüngste Sportschüler ist gerade einmal drei Jahre alt. Um ihren Sprösslingen den Traum von Olympia (und sich selbst den Traum von einem besseren Leben) zu erfüllen, verschulden sich die meisten Eltern, was nicht selten im finanziellen Ruin endet. Ganz neu ist das allerdings auch nicht, ist das chinesische Modell doch an die frühere Sportförderung im ehemaligen Ostblock angelehnt.
Fazit: Gerade vor den Olympischen Spielen wird deutlich, wie weit sich der Sport von den hehren Ideen eines Pierre de Coubertin entfernt hat. China ist da nur ein Beispiel, die verabscheuungswürdigen Auswüchse des Sports beschränken sich beileibe nicht auf das Reich der Mitte(l).

__de__mailto:pmichel@tageblatt.lu