Krisenkontinent Europa

Krisenkontinent Europa
(dpa/Julien Warnand)

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Angesichts der Vielzahl von Problemen, denen die EU aktuell gegenübersteht, zweifeln manche Experten an der Überlebensfähigkeit des Staatenbündnisses. Sie bemängeln zu schwache Strukturen und fehlende Instrumente, um nationale Eigeninteressen zu überwinden.

Wäre die EU ein Patient, würden Ärzte aus Sorge vor einem multiplen Organversagen um ihr Überleben bangen. Kriegsschiffe der Nato sollen in der Ägäis gegen Schlepper vorgehen und so helfen, die EU-Außengrenze zu schützen. Innerhalb der Europäischen Union haben sich informelle Blöcke gebildet, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, obwohl eine solche Umverteilung längst beschlossen wurde. Mehrere Länder, darunter Nachbar Deutschland, führten wieder Grenzkontrollen ein und Großbritannien fordert mit Blick auf ein geplantes Referendum über einen möglichen Austritt aus der EU Zugeständnisse von den 27 weiteren Mitgliedstaaten.

So sehen viele Experten die EU vor Beginn des Gipfels am Donnerstag in Brüssel in der Krise. Besser gesagt: in gleich mehreren Krisen. Beobachter glauben, dass das Zusammenspiel dieser Herausforderungen die Union überfordern könnte. Die EU mache eine Existenzkrise durch, sagt Ian Kearns, Direktor der Forschungsgruppe European Leadership Network in London. Anstatt gemeinsam nach Lösungen zu suchen, verfolgten Staaten nationale Interessen, während das Konzept europäischer Solidarität verblasse.

„Populistische Bewegungen“

Ob die EU langfristig überleben werde, sei offen, sagt Kearns. „Ich glaube, dass es derart ernst ist. Es ist nicht nur die Migrationskrise oder der Brexit.“ Mit dieser Abkürzung wird ein befürchtetes Ausscheiden Großbritanniens aus dem Staatenbund bezeichnet. „Die Herausforderung ist das mangelnde Vertrauen in die etablierte politische Klasse in Europa, das sich auf dem gesamten Kontinent zeigt und sich im Aufstieg populistischer Bewegungen manifestiert. Die Migrationskrise hat das einfach nur unterstrichen“, erklärt Kearns.

Der Gipfel reiht sich ein in eine ganze Serie von Treffen, bei denen – meist vergeblich – versucht wurde, eine wirksame gemeinsame Reaktion auf den ungeordneten Zustrom so vieler Menschen zu finden. Die Staats- und Regierungschefs werden über vergleichsweise geringfügige Änderungen des Status Großbritanniens beraten, die britischen Wählern vor dem Referendum üebr einen EU-Verbleib entgegenkommen sollen. Außerdem wollen sie bewerten, wie gut oder schlecht frühere Beschlüsse zum Thema Migration umgesetzt wurden.

Kleine Bündnisse

Anand Menon vom Londoner King’s College sagt, die EU habe einfach keinen praktischen Ansatz, um mit der wachsenden Zahl von Problemen umzugehen. Die Strukturen, die bei ihrer Gründung als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1958 mit sechs Mitgliedstaaten geschaffen und beim Beitritt zahlreicher Länder mit unterschiedlichen Perspektiven verwässert wurden, seien schlicht zu schwach, erklärt Menon. Deshalb träfen Staaten entweder einseitige Entscheidungen oder schmiedeten kleine Bündnisse mit anderen Staaten, die ihre Ansichten teilten.

„Das europäische Projekt ist vermutlich in Schwierigkeiten“, sagt Menon. Schon seit einigen Jahren befinde sich die EU in dieser Lage: „Sehr große Krisen ohne die Instrumente, sie anzugehen.“ Bei Themen wie Flüchtlingen oder der Haushaltskrise in Griechenland habe die EU nur begrenzte Befugnisse, während die großen Entscheidungen von den Mitgliedstaaten getroffen würden. Die EU „ist zersplittert, weil die Mitgliedstaaten völlig unterschiedliche Ansichten haben“, so Menon.

Kein Interesse

„Die Länder im Süden wie Griechenland und Italien tragen die Hauptlast“, erklärt er. „Ein paar Länder im Norden – Deutschland und die Skandinavier – waren zuerst großzügig und bedauern das jetzt. Die Briten tun so, als sei nichts passiert. Und die Visegrád-Staaten (Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei) sagen, sie seien aus kulturellen und geschichtlichen Gründen nicht daran interessiert, zu helfen.“

Vor 20 Jahren, bevor islamistischer Extremismus innerhalb Europas zum Thema wurde, war die Lage einfacher. Die Öffnung der inneren und äußeren Grenzen des Kontinents wurde als willkommener Teil einer Friedensdividende gewertet. Staaten des ehemaligen Ostblocks wurde die Aufnahme in die EU angeboten, zusammen mit lukrativen Subventionen und Milliardeninvestitionen. Der Zustrom von Migranten war überschaubar und galt nicht als Bedrohung für den Verbund.

Scharfe Unterschiede

Die ungelöste Flüchtlingsfrage könne den Integrationsprozess der EU nun umkehren, indem sie das Schengen-Abkommen von 1985 zum ungehinderten Reise- und Warenverkehr undurchführbar mache, sagt Stefan Lehne, Gastwissenschaftler bei Carnegie Europe, dem Brüsseler Ableger der US-Denkwerkstatt Carnegie Endowment for International Peace. Die Gruppe befasst sich mit Friedens- und Konfliktforschung. Lehne verweist darauf, dass einige Staaten vorübergehend bereits wieder Grenzkontrollen eingeführt hätten.

Das Rechtsstaatsprinzip sei schon dadurch untergraben worden, dass ein vereinbartes Quotensystem zur Umsiedlung von Flüchtlingen in eine Reihe von Ländern bislang nicht umgesetzt worden sei, sagt Lehne. Scharfe Unterschiede seien zutage getreten durch die Art, wie die Visegrád-Gruppe im Osten Europas die wirtschaftlichen Vorteile der EU-Mitgliedschaft ernte und den Flüchtlingen gleichzeitig Hilfe verweigere. All dies bremse die Integration und werde sie möglicherweise in Kürze ins Gegenteil verkehren.

„Dies ist wirklich das erste Mal, dass wir eine sehr reale Errungenschaft des Integrationsprojekts – Schengen – verlieren könnten, mit wichtigen wirtschaftlichen Kosten“, sagt Lehne. Dies sei auch symbolisch sehr wichtig. „Mein Gefühl ist, sofern wir die Flüchtlingsfrage nicht in den Griff bekommen, wird sich der Integrationsprozess umkehren.“