/ Kadhim hat sich unter all den Toten wiedererkannt
„Ich tat so, als wäre ich erschossen worden“, sagt Ali Hussein Kadhim. Der 23-jährige Iraker hat eine Massenhinrichtung der Terroristen der Miliz „Islamischer Staat“ (ISIS) überlebt. Bei dem Massaker in der Nähe von Tikrit, dem Heimatort des ehemaligen Diktators Saddam Hussein, sollen die Extremisten im ehemaligen amerikanischen Stützpunkt „Camp Speicher“ über 560 junge Iraker erschossen haben. In Propagandavideos sprechen die IS-Terroristen sogar von 1700 Toten. In so einem Video hat sich Kadhim wiedererkannt. Im Dreck, zwischen Dutzenden von Toten liegend.
Die Satellitenaufnahmen zeigen den Ort des Massakers auf dem ehemaligen Präsidentenpalast bei Tikrit. Human Rights Watch zufolge sind die dunklen Flecken innerhalb des roten Vierecks links Blutlachen des Massakers.
Zum Zeitpunkt seiner Gefangennahme hatte der zweifache Vater gerade seine Tätigkeit als irakischer Soldat im „Camp Speicher“ aufgenommen. Als IS-Terroristen an jenem Junitag auf die Basis zu stürmten, legten die noch unerfahrenen Soldaten ihre Uniform ab und flohen. Der Ruf der brutalen Miliz hatte die jungen Soldaten längst eingeschüchtert: Wer IS in die Hände fiel, dem drohte ein grausamer Tod. Auch Kadhim rannte davon. Doch nach einigen Kilometern wurden er und andere Soldaten von IS-Kämpfern in gepanzerten Wagen eingeholt. „Wir bringen euch nach Bagdad“, verkündeten diese.
„Lasst den Ungläubigen leiden“
Das war falsch, die jungen Soldaten sollten nie in die irakische Hauptstadt gebracht werden. Statt dessen verschleppten die IS-Kämpfer sie in die nahe Stadt Tikrit, versammelten und nummerieren sie, um sie der Reihe nach zu erschiessen. Kadhim war Nummer vier in seiner Reihe. „Ich hatte nur meine kleine Tochter im Kopf“, so Kadhim zur „New York Times“.
Als die Terroristen den ersten Mann hinrichteten, spritzte dessen Blut auf Kadhims Gesicht. Dann war er dran. Er spürte, wie die Kugel seinen Kopf nur knapp verfehlt. Trotzdem ließ er sich in den frisch gegrabenen Graben fallen. Die Mörder trampelten über ihn und die Leichen seiner Kameraden hinweg. Ein Mann neben Kadhim atmete noch. „Lasst ihn leiden. Er ist ein ungläubiger Shiit“, sagte ein IS-Kämpfer.
Etwa vier Stunden lag Kadhim im Dreck. Alles war ganz still. Im Schutz der Dunkelheit befreite er sich aus dem Graben mit den vielen Toten – und rannte. Beim nahe gelegenen Ufer des Flusses Tigris versteckte er sich im Schilf.
Von Insekten und Pflanzen ernährt
Dort traf er auf einen anderen Soldaten aus „Camp Speicher“: Abbas war schwer verletzt. Die IS-Mitglieder hatten ihn in den Fluss geschmissen. Drei Tage blieb Kadhim bei Abbas, der sich kaum bewegen konnte. „Es waren drei Tage der Hölle“, sagt Kadhim.
Er ernährte sich von Insekten und Pflanzen – und plante seine Flucht. Der schwer verletzte Abbas bat ihn, zurückzukommen, um ihn zu holen. Sollte dies nicht gelingen, solle Kadhim wenigstens von Abbas‘ Schicksal erzählen.
Der einzige Überlebende?
Kadhim gelang es, den Fluss zu überqueren. Obwohl er sich immer noch auf IS-Terrain befand, klopfte er an die Türen von Häusern an. Sein Hunger war schlicht grösser als seine Angst. Er hatte Glück. Die Menschen nahmen ihn auf, kümmerten sich um Kadhim und brachten ihn nach Al-Alam. Von dort gelangte er nach Erbil, die noch sichere nordirakische Kurdenhauptstadt. Hier traf Kadhim glücklicherweise auf seinen Onkel, der ihn bei sich aufnimmt.
„Ich hatte den grossen Willen, zu überleben“, sagt er. Heute ist Kadhim mit seiner Familie vereint. Nachdem er wochenlang verschwunden war, habe ihn seine Tochter nicht mehr erkannt. Zu abgemagert sei er gewesen, zu dicht sein Bart.
Kadhim dürfte der einzige Überlebende des Massakers von „Camp Speicher“ sein.
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