AfghanistanTotalversagen des Westens: Taliban an der Macht, Nato vor einem Scherbenhaufen

Afghanistan / Totalversagen des Westens: Taliban an der Macht, Nato vor einem Scherbenhaufen
„Für Sicherheit und ein angenehmes Leben sorgen“: Taliban-Kämpfer am Montag in Kabul Foto: AFP/Wakil Kohsar

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Waren die Regierungen von Washington bis Berlin und von London bis Paris naiv? Oder wollten sie es nicht wahrhaben? Jetzt ist in Afghanistan Realität, wovor viele gewarnt haben. Die Taliban haben faktisch die Macht übernommen. Und die Nato steht vor einem Scherbenhaufen.

Das Horrorszenario, das niemand kommen sehen wollte, ist eingetreten. Schneller, als die größten Pessimisten es befürchtet haben. Die militant-islamistischen Taliban sind nach einem rasenden Eroberungsfeldzug, bei dem sie auf kaum Widerstand getroffen sind, in den Präsidentenpalast in Kabul eingezogen – noch bevor der letzte US-Soldat das Land verlassen hat. Der geordnete Abzug, den die Nato sich vorgenommen hatte, wird zur Flucht. Und selbst die droht nun zum Desaster zu werden.

Die ersten westlichen Staatsbürger verließen in der Nacht zu Montag das Land erst, nachdem die Taliban Kabul faktisch eingenommen hatten: Mit einer US-Maschine flogen so auch 40 Mitarbeiter der deutschen Botschaft nach Doha aus. Das war es dann aber auch erst einmal. Wegen des Chaos auf dem Kabuler Flughafen verzögerten sich die Evakuierungseinsätze am Montagnachmittag. Weil verzweifelte Afghanen, die sich vor den Taliban in Sicherheit bringen wollen, die Landebahn blockierten, wurde der Flugverkehr zeitweise ausgesetzt.

Bidens Versagen

Der Abzug der Nato-Truppen schon in diesem Sommer und die nun eingetretene, verheerende Niederlage der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan wird für immer mit US-Präsident Joe Biden verbunden sein. Dabei wusste der versierte Außenpolitiker um die potenziellen Konsequenzen seiner Abzugsentscheidung: Eine vom US-Kongress eingesetzte „Studiengruppe Afghanistan“ hatte im Februar vor katastrophalen Folgen eines bedingungslosen amerikanischen Rückzugs gewarnt. Biden setzte sich darüber hinweg und kündigte ein Ende des US-Einsatzes am 31. August an. Das ist nun Makulatur: Knapp 20 Jahre nachdem die US-geführte Allianz sie von der Macht vertrieben hatte, herrschen in Afghanistan wieder die Taliban.

Während die militanten Islamisten im Präsidentenpalast in Kabul vor den Kameras posierten, zeigte sich Biden den gesamten Sonntag über nicht in der Öffentlichkeit, erst am Montag um 22.20 Uhr MESZ wollte er vor die Kameras treten. Am Samstag, dem Tag vor dem Fall Kabuls, äußerte er sich in einer Mitteilung, in der er die Verantwortung für das Debakel seinem Vorgänger Donald Trump in die Schuhe schob. Trumps Regierung hatte in einem viel kritisierten Abkommen mit den Taliban in Doha im Februar vergangenen Jahres zwar den Boden für den US-Abzug bereitet. Bidens Ausrede, er habe den Afghanistan-Deal von Trump geerbt, ist dennoch eine schwache: Dutzende andere Entscheidungen seines Vorgängers hat Biden seit seinem Amtsantritt im Januar rückgängig gemacht.

Biden argumentiert nun, dass eine Verlängerung des militärischen Einsatzes keinen Unterschied gemacht hätte, „wenn das afghanische Militär das eigene Land nicht halten kann oder will“. Eine derart schnelle Machtübernahme der Taliban – und das daraus resultierende Chaos – wären ohne Bidens überstürzte Abzugsentscheidung allerdings kaum denkbar gewesen. Die „Studiengruppe Afghanistan“ hatte empfohlen, US-Truppen in Afghanistan zu belassen, bis die Taliban ihre Verpflichtungen im Doha-Abkommen erfüllen – das unter anderem Friedensverhandlungen mit der Regierung in Kabul vorsah.

Biden entschloss sich im April dazu, einseitig einen bedingungslosen Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan zu verkünden. Der US-Präsident sagte damals: „Es ist an der Zeit, Amerikas längsten Krieg zu beenden.“ Den Nato-Partnern der USA fehlten der Wille und der Mut, eine Fortführung des Einsatzes ohne den größten Truppensteller in Erwägung zu ziehen. Da wurde immer wieder argumentiert, es mangele an wichtigen Fähigkeiten zum Beispiel für Aufklärung und Verwundetenrettung. Aus dem Prinzip „gemeinsam rein, gemeinsam raus“ wurde ein: „Im Gefolge der USA rein und auch wieder raus.“

Macrons Ansage

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron indes hat vor einem Wiedererstarken des internationalen Terrorismus gewarnt. „Afghanistan darf nicht wieder zu dem Refugium für den Terrorismus werden, das es einmal war“, sagte Macron am Montagabend in einer Fernsehansprache in seiner Sommerresidenz Fort de Brégançon am Mittelmeer. Dafür müssten sich Russland, die USA und Europa gemeinsam einsetzen, forderte er.

Macron kündigte zudem eine gemeinsame EU-Initiative mit Deutschland gegen die erwartete Flüchtlingskrise an. „Die Destabilisierung Afghanistans birgt das Risiko, illegale Flüchtlingsströme nach Europa hervorzurufen“, sagte der französische Staatschef. Er hatte sich nach Angaben des Pariser Elysée-Palastes zuvor telefonisch mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und anderen westlichen Regierungschefs über die Lage ausgetauscht.

Merkel und Deutschlands Außenminister Heiko Maas haben am Montag eingeräumt, dass die Bundesregierung die Entwicklung in Afghanistan falsch eingeschätzt hat. „Das ist eine überaus bittere Entwicklung“, sagte die Kanzlerin am Montagabend. „Bitter, dramatisch und furchtbar ist diese Entwicklung ganz besonders für Afghanistan“, fügte sie hinzu. Man habe wie viele andere nicht damit gerechnet, dass die Taliban das Land so schnell kontrollieren und die afghanische Armee praktisch keinen Widerstand leisten werde.

Ungeachtet der chaotischen Lage am Flughafen Kabul wollte Frankreich noch am Montagabend zwei Militärflugzeuge nach Afghanistan schicken. Sie sollen nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Paris französische Botschafts-Mitarbeiter und afghanische Ortskräfte sowie Menschenrechtler und Journalisten ausfliegen. Flugzeuge der deutschen Bundeswehr hatten sich schon früher auf den Weg gemacht, mussten aber vorerst in Aserbaidschan zwischenlanden. Zwei Maschinen flogen weiter Richtung Kabul, konnten aber wegen der Menschen auf dem Rollfeld erst einmal nicht landen. Das belgische Verteidigungsministerium hat angekündigt, vier Flugzeuge nach Afghanistan zu schicken, um sich an der Evakuierung von Menschen auf dem Flughafen Kabul zu beteiligen.

In Gefahr seien gegenwärtig „Verteidiger der Menschenrechte, Künstler, Journalisten“, erklärte derweil Macron in einer Fernsehansprache. „Wir werden sie willkommen heißen, denn es ist eine Ehre für Frankreich, an der Seite derjenigen zu stehen, die für die Freiheit kämpfen.“

Biden sprach noch im vergangenen Monat von einem „sicheren und geordneten“ Rückzug. Davon kann keine Rede mehr sein. Wie sehr der rasante Siegeszug der Taliban die US-Regierung überwältigt hat, zeigen Aussagen wie diese: „Lassen Sie mich das ganz klar sagen: Die Botschaft bleibt geöffnet“, betonte der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, noch am Donnerstag. „Dies ist kein Aufgeben. Es handelt sich nicht um eine Evakuierung. Es handelt sich nicht um einen Rückzug auf breiter Front.“ Am Sonntag wurde die US-Flagge auf der Botschaft in Kabul eingeholt, das Gebäude wurde evakuiert, die diplomatische Vertretung wurde geschlossen.

Ghani Baradars Mahnung

Von „Bidens Afghanistan-Kapitulation“ schreibt das Wall Street Journal, die Zeitung sieht darin „die schlimmste Demütigung der USA seit dem Fall von Saigon im Jahr 1975“. Gegen diesen Vergleich mit der Niederlage in Vietnam stemmt sich die US-Regierung seit Wochen. Anders als damals werde es in Afghanistan nicht vorkommen, dass Menschen vom Dach der US-Botschaft aus in Sicherheit gebracht würden, sagte Biden noch im vergangenen Monat. Die Aufnahmen vom Chaos am Flughafen in Kabul, wo Tausende verzweifelte Afghanen am Montag auf das Flugfeld strömten, wirkten allerdings nicht minder verstörend. Die Hilfesuchenden dürften sich noch gut an die Versprechen zahlloser westlicher Politiker erinnern, die 20 Jahre lang beteuerten, man werde die Afghanen nicht wieder im Stich lassen.

In Kabul selbst war es am Montag vergleichsweise ruhig: Die Straßen waren weniger belebt als am Vortag, während die Islamisten Kontrollposten in der Stadt errichteten. Tausende Kämpfer sollen laut einem Taliban-Sprecher auf dem Weg nach Kabul sein, um dort für „Sicherheit“ zu sorgen.

Mullah Abdul Ghani Baradar, einer der Taliban-Gründer, rief die Milizionäre in einem Online-Video zur Disziplin auf: „Jetzt ist es an der Zeit, zu beweisen, dass wir unserer Nation dienen und für Sicherheit und ein angenehmes Leben sorgen können.“ Worte, die wenig zur Panik der Einwohner von Kabul und anderen afghanischen Städten passten. (dpa, AFP, Reuters)