Selenski holt das Präsidentenamt der Ukraine vom Sockel

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Sein Vorgänger Petro Poroschenko war mit der Staatskarosse zu seiner Amtseinsetzung vorgefahren. Der frisch gewählte Nachfolger Wolodymyr Selenski, ein Komiker und begnadeter Profi-Schauspieler, wählte einen lockeren Spaziergang durch den Park zum Parlament.

Von unserem Korrespondenten Paul Flückiger, Warschau

Bejubelt von Tausenden Anhängern schüttelte er immer wieder Hände, verteilte Küsschen und posierte gar zu einem Selfie, bevor er ernsten Schrittes im Gebäude der „Werchowna Rada“, des ukrainischen Einkammerparlaments, verschwand.

Den Amtseid legte Selenski wie seine fünf Vorgänger seit der Unabhängigkeit von 1991 mit der Hand auf Verfassung und einer ukrainischen Bibelübersetzung von 1561 ab. Dann aber erhob sich der erst 41-jährige neue Staatspräsident zu einer rhetorisch fulminanten Antrittsrede, die kaum jemand dem bekannten TV-Possenreißer zugetraut hätte. „Ich löse das Parlament auf. Hoch lebe die Ukraine“, sagte der frisch vereidigte neue Staatspräsident am Ende seines Auftritts. Das zuvor immer wieder applaudierende Parlament verfiel plötzlich in Schockstarre. Selenski hatte einen solch radikalen Schritt zwar bereits im Wahlkampf versprochen, doch die ukrainischen Parlamentarier hielten dies offensichtlich bis zuletzt für leeren Populismus.

Jeder trägt Mitverantwortung

Zuvor allerdings hatte Selenski, wie schon beim Gang durch den Park, das Präsidentenamt vom Sockel genommen. „Heute ist jeder Ukrainer ein Staatspräsident, jeder kann etwas beitragen, jeder trägt eine Mitverantwortung“, sagte Selenski in der von den meisten Fernsehstationen übertragenen und im ganzen Land auf Großbildschirmen mitverfolgten Antrittsrede. Er wolle seine Porträts nicht in den Amtsstuben sehen, wandte sich Selenski gegen den Brauch in vielen post-sowjetischen Staaten. Auch in der Ukraine hatte bisher der aktuelle Staatspräsident das einstige obligatorische Lenin-Porträt ersetzt. „Hängt stattdessen ein Foto eurer Kinder an die Wand, und denkt bei allen Entscheidungen an ihre Zukunft“, forderte Selenski in seiner unkonventionellen Antrittsrede.

Selenski bekannte sich klar zu Europa und zur NATO, forderte aber weniger Gerede und stattdessen wirkliche Schritte auf beide Ziele hin. Als Vorbilder für die Ukraine erwähnte er sodann das kleine Island mit seiner erfolgreichen Fußballmannschaft, Israel wegen seiner enormen Verteidigungsfähigkeit, den Technologiegiganten Japan und die multikulturelle Schweiz – nota bene alle Nicht-EU-Mitglieder. Als Erstes müsse ein Waffenstillstand im Donbass erreicht werden, sagte Selenski. Für den Frieden in der Ostukraine sei er bereit, seine Popularität und auch sein Amt zu riskieren, versprach er. „Dabei kommt kein Gebietsverzicht infrage, niemals!“, stellte Selenski klar. Wie er all dies erreichen will, ließ der neue Staatspräsident indes offen.

Geheimdienstchef entlassen

Der Kremlherr Putin, der die pro-russischen Separatisten im Donbass unterstützt, hat nicht nur begonnen, dort russische Pässe zu verteilen, sondern auch Selenski nicht einmal zum Wahlsieg gratuliert. Dieser hatte den in Russland besonders verhassten Amtsinhaber Poroschenko vor Monatsfrist mit 73 Prozent Zustimmung haushoch geschlagen.

Vom Parlament forderte Selenski die Verabschiedung von drei dringenden Gesetzen, die er somit als Staatspräsident einbringe. Es handelt sich um die im Wahlkampf versprochene Aufhebung der Immunität der Abgeordneten bei Strafverfolgung; Amtsinhabern soll es verboten werden, sich illegal zu bereichern. Schließlich soll ein neues Wahlgesetz die Parteien stärken und den Einfluss lokaler Oligarchen zurückdrängen.

Dazu forderte Selenski die Entlassung des unbeliebten Geheimdienstchefs, des umstrittenen Oberstaatsanwalts Jurij Lutsenko und des Verteidigungsministers. Letzteres liegt klar in der Kompetenz des Staatspräsidenten. „Dafür bleibt euch zwei Monate Zeit“, schloss Selenski und erklärte das Parlament für aufgelöst. Die Neuwahlen setzte er damit für Ende Juli an, mitten in den Sommerferien

Blockierung der Initiativen

Als „riskante Entscheidung“ bezeichnete der Kiewer Politologe Wolodymyr Fesenko Selenskis Entscheidung, das Parlament aufzulösen. „Sie spricht für seinen Erneuerungswillen“, fügte der Politologe an. Allerdings ist juristisch unklar, ob Selenski dazu überhaupt berechtigt ist. Doch ohne Neuwahlen stehen Selenskis Chancen für einen raschen Wandel schlecht. Im heutigen Parlament verfügt der neue Staatspräsident über keine eigene Fraktion. Politische Beobachter in Kiew rechnen mit höchstens 50 Überläufern von 450 Parlamentariern.

Selenski droht deshalb vielmehr eine Blockierung seiner Initiativen durch Poroschenkos bisherige Regierungskoalition. Diese hofft, bei regulären Parlamentswahlen Ende Oktober einen parlamentarischen Gegenpol zu stellen, der den Präsidenten zahnlos machen könnte. Um dies zu verhindern, will Selenski möglichst schnell seine eigene Partei „Diener des Volkes“ – benannt nach jener populären Fernsehserie, in der er den Lehrer-Präsidenten spielte – ins Parlament hieven. Und zwar möglichst bevor seine Popularität angesichts des harten innenpolitischen Alltags und vor allem Putins Unerbittlichkeit sinken wird.

Nur so kann er zusammen mit Julia Timoschenkos Partei „Batkiwtschina“ (Vaterlandspartei) und weiteren geneigten Kräften in der Sozial- und Wirtschaftspolitik eigene Konzepte durchzusetzen. Dies erwartet von ihm vor allem auch Selenskis Mentor, der erst letzte Woche aus dem israelischen Exil in die Ukraine zurückgekehrte Oligarch Ihor Kolomojski.