TunesienPräsident Kais Saïed kann jetzt durchregieren

Tunesien / Präsident Kais Saïed kann jetzt durchregieren
Präsident Kais Saïed (M.) feiert den Ausgang des Verfassungsreferendums mit Unterstützern  Foto: Anis Mili/AFP

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Als Kais Saïed im Jahr 2019 Staatsoberhaupt von Tunesien wurde, war seine Macht im Wesentlichen auf zwei Bereiche beschränkt: Diplomatie und Verteidigung. Drei Jahre später ist Saïed so mächtig wie kein zweiter tunesischer Politiker mehr, seit 2011 der autoritäre Staatschef Zine el Abidine Ben Ali infolge der Massenproteste des sogenannten Arabischen Frühlings aus dem Land gejagt worden war.

Nachdem fast 95 Prozent der rund 2,8 Millionen Teilnehmer am Verfassungsreferendum für Saïeds Projekt eines neuen Staatsaufbaus gestimmt haben, ist der 64-jährige frühere Jura-Dozent auf dem bisherigen Gipfel seiner Macht angekommen. Den steilsten Teil seines Aufstiegs hatte Saïed im Juli 2021 begonnen. Damals entmachtete er die Regierung und das Parlament und ermöglichte es sich selbst, das Land weitgehend über Dekrete zu regieren.

Durch die neue Verfassung – die in Kraft treten soll, sobald das offizielle Endergebnis des Referendums verkündet ist – wird Saïed zum Staatschef in einem ultrapräsidialen Regierungssystem mit einem deutlich schwächeren Parlament als bisher, ähnlich wie in Tunesien bis 2011 unter Ben Ali.

Zu Saïeds Vorbildern zählen laut Experten der frühere französische Präsident Charles de Gaulle, autoritäre Herrscher arabischer Staaten wie der ägyptische Regierungschef Gamal Abdel Nasser oder Libyens langjähriger Herrscher Muammar al-Gaddafi – und gegenwärtige Kollegen wie Recep Tayyip Erdogan in der Türkei und Wladimir Putin in Russland. Was genau Saïed aber nun mit Tunesien vorhat, bleibt unklar.

2019 hatte der glatzköpfige, schlanke Saïed die Präsidentenwahl mit dem Slogan „Das Volk will“ gewonnen, einem Schlagwort, das er den Parolen des Arabischen Frühlings entlehnt hatte. Seine Popularität erhöhte der aus einer Mittelklassefamilie stammende Saïed unter anderem, indem er sich als leutseliger Mann von nebenan präsentierte, der sich beim Kellner seines Stammcafés stets über dessen Familie erkundigt.

Viele junge Menschen, viele Menschen am Rand der Gesellschaft, sind auf seiner Seite

Hamadi Redissi, Politikwissenschaftler

Der Anthropologe Jussef Seddik erzählt heute, er habe Saïed vor dessen Wahl getroffen und sei damals beeindruckt gewesen von seiner „Freundlichkeit und Zugewandtheit“. In den Monaten seit der faktischen Entmachtung von Parlament und Regierung im Sommer 2021 hat sich der Präsident aber zusehends in den Präsidentenpalast in Karthago, einem noblen Vorort von Tunis, zurückgezogen. Der Vater zweier Töchter und eines Sohns wähle seine Mitarbeiter inzwischen „improvisiert oder in Eile“, sagt Seddik. Auch sein Auftritt habe sich seit 2019 deutlich verändert. Saïed trete heute hart und kompromisslos auf und spreche klassisches Hocharabisch, das viele Tunesier gar nicht beherrschen.

Image als Retter gegen grassierende Korruption

Populär ist Saïed bei einem erheblichen Teil der Menschen aber weiterhin. „Viele junge Menschen, viele Menschen am Rand der Gesellschaft, sind auf seiner Seite“, sagt der Politikwissenschaftler Hamadi Redissi. In den Jahren nach 2011 hatte er sich ein Image als Retter gegen grassierende Korruption, sinkende Kaufkraft und steigende Arbeitslosigkeit aufgebaut. Davon zehrt er bis heute – auch, wenn seine Popularität unter der jüngsten Wirtschaftskrise gelitten hat.

Saïed, der vor allem in gesellschaftspolitischen Themen und gerade im Umgang mit Homosexuellen konservativ ist, setzt sich andererseits für das ein, was er „Basisdemokratie“ nennt – und verspricht Hilfe für die besonders benachteiligten Regionen Tunesiens. In seinen Reden appelliert er häufig an den Nationalstolz seiner Landsleute und wütet gegen „ausländische Einmischungen“, wenn etwa internationale Institutionen oder Nichtregierungsorganisationen den Abbau demokratischer Kontrollinstanzen beklagen.

Besonders leidenschaftlich wendet er sich aber gegen die islamistische Ennahda-Partei, die nach 2011 lange den Regierungschef stellte, ohne sie jedoch je beim Namen zu nennen. Mit ihr wird sich Saïed dank seiner Verfassungsreform künftig wohl weniger beschäftigen müssen. (AFP)