BelarusLukaschenko versetzt seine Armee in Alarmbereitschaft, Proteste gehen trotzdem weiter

Belarus / Lukaschenko versetzt seine Armee in Alarmbereitschaft, Proteste gehen trotzdem weiter
Nicht nur in Minsk strömten wieder Hunderttausende Oppositionsanhänger auf die Straßen, auch in der Provinz wurde gegen Lukaschenko demonstriert Foto: AFP/Sergei Gapon

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Trotz Alarmstufe Rot des weißrussischen Heeres haben sich am Sonntag erneut bis zu 300.000 Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz in Minsk und in den angrenzenden Straßen versammelt. Sie forderten die Abdankung Alexander Lukaschenkos, die Freilassung der politischen Gefangenen und neue Präsidentenwahlen.

„Märsche für ein neues Belarus“, fanden auch in Dutzenden weiteren Städten statt. In den sechs Gebietszentren und vielen Provinzstädten im Westen des Landes waren sie besser besucht. In dem länger sowjetisch geprägten Osten des Landes waren in den Videoaufnahmen der Telegram-Kanäle weniger Demonstranten auf den zentralen Plätzen zu sehen. Überall wurde eine Schweigeminute für die bisher mindestens vier Todesopfer der seit zwei Wochen andauernden Proteste abgehalten.

Am Samstag war ein toter junger Mann in einem Waldstück bei Minsk aufgefunden worden. Er gehörte zu den rund 80 Vermissten seit den bis zum 12. August blutig niedergeschlagenen Nachwahlprotesten. Laut Polizei soll er nichts mit den Protesten zu tun und einfach nur Selbstmord begangen haben, doch die oppositionelle Internetzeitung Nascha Niwa veröffentlichte am Sonntag ein Video, das Mikita Kryutsou mit weiß-rot-weißer Flagge vor einem Spalier der OMON-Sondertruppen zeigt. Die Leiche soll Spuren von Schlägen aufweisen.

Das Verschwindenlassen von Opponenten hat unter Lukaschenko eine lange Tradition. Noch immer fehlt jede Spur von mehreren Oppositionellen sowie eines russischen TV-Teams, die Ende der 90er-Jahre mutmaßlich von Todesschwadronen ermordet wurden. Der Fall Kryutsou hat Belarus zusätzlich aufgerüttelt. Doch die lähmende Angst ist durch die aktuellen Proteste von vielen Weißrussen abgefallen.

Lukaschenko spricht von NATO-Angriff

Besonders aktiv wurde auch am Sonntag wieder in Grodno im Dreiländereck Polen-Litauen-Belarus demonstriert. Auf dem Lenin-Platz vor dem Rathaus versammelten sich rund 10.000 Opponenten Lukaschenkos. Erst am Samstag hatte ebendort Lukaschenko selbst zu Tausenden mit Bussen herangekarrten Anhängern gesprochen. Der Staatspräsident verkündete, er habe seine Truppen in höchste Gefechtsbereitschaft versetzt, weil die NATO einen Angriff auf Belarus vorbereite. „NATO-Truppen ziehen sich jenseits der Grenze in Polen und Litauen zusammen“, behauptete Lukaschenko. „Alles ist klar: Wie erwartet läuft alles nach Plan für eine farbige Revolution“, sagte er.

Lukaschenko behauptete auch erneut, Polen wolle seine einstigen Ostgebiete zurückerobern. Grodno war 1918-39 eine polnische Stadt und im 17. Jahrhundert ein wichtiges Zentrum der Polnisch-Litauischen Union. Bereits 2005 spielte Lukaschenko angesichts innerer Spannungen die „polnische Karte“.

Falls es Störungen der Ordnung oder Unruhen auf diesen Plätzen geben sollte, werden Sie es schon nicht mehr mit der Miliz zu tun bekommen, sondern mit der Armee —- Aus einer Mitteilung des belarussischen Verteidigungsministeriums

Das weißrussische Heer ist im Vergleich zu Lukaschenkos Sonderpolizeikräften eher schwach und verfügt über rund 50.000 Berufssoldaten und 350.000 Reservisten. Allerdings ist es mit moderner russischer Waffentechnik ausgestattet. Lukaschenkos Auftritt in Grodno befeuerte Spekulationen über einen bevorstehenden Militärputsch. Erst im Juni hatte Lukaschenko seine Regierung geschasst und den neuen Ministerrat vor allem mit Personen aus den Sicherheitsstrukturen besetzt.

In Grodno setzte er seinen bisherigen Gesundheitsminister, Uladzimir Karanik, als neuen Gebietsverwalter ein. Sein Vorgänger hatte einen Dialog mit der Opposition gesucht, während zwei Tagen war das Demonstrieren in Grodno erlaubt, dann drehten die Behörden die Schrauben wieder zu. Ab Wochenbeginn am Montag sollen auf Befehl Lukaschenkos im ganzen Land keine Proteste mehr stattfinden. In Grodno rief der Autokrat seine Sicherheitskräfte zu Toleranz am Sonntag und hartem Durchgreifen ab Montag auf.

Warschau, Vilnius und das NATO-Hauptquartier in Brüssel wiesen Lukaschenkos Behauptungen zurück. „Das Regime versucht, die Aufmerksamkeit um jeden Preis von den internen Problemen Belarus’ abzulenken, indem es völlig unbegründete Aussagen über eingebildete externe Bedrohungen macht“, sagte Litauens Präsident Gitanas Nausėda am Sonntag der baltischen Presseagentur BNS.

Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die sich in Litauen im Exil befindet, wird heute Montag in Vilnius mit dem amerikanischen Vize-Außenminister Steven Biegun zusammentreffen. Biegun will danach nach Moskau weiterreisen und dort mit seinem russischen Amtskollegen über Belarus sprechen.

Am Freitag hatte Tichanowskaja in einem Interview mit dem von Polen aus sendenden weißrussischen Satellitenfernsehen „Belsat“ überraschend erklärt, weder sie noch ihr Ehemann planten, bei allfällig wiederholten Präsidentenwahlen noch einmal anzutreten.

Sergej Tichanowski befindet sich seit Ende Mai in Untersuchungshaft. Das Regime wirft dem durch die Festnahme verhinderten Präsidentschaftskandidaten und bekannten Video-Blogger die Organisation von Massenunruhen vor.