TunesienJahrelange Not erschüttert das Vertrauen in die Demokratie

Tunesien / Jahrelange Not erschüttert das Vertrauen in die Demokratie
Straßenszene in der Avenue Habib Bourguiba in der Hauptstadt Tunis: Nach dem Arabischen Frühling hat sich für die meisten Tunesier nicht wirklich etwas zum Besseren gewendet Foto: AFP/Fethi Belaid

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Das Musterland des Arabischen Frühlings steckt in der Krise: Nach der Entmachtung der tunesischen Regierung durch Präsident Kaïs Saïed befürchten internationale Beobachter einen Rückfall des nordafrikanischen Landes in autokratische Verhältnisse. Doch die politischen Zerwürfnisse zeichneten sich schon lange ab – und wurzeln in einer tiefgreifenden Wirtschafts- und Schuldenkrise, die noch keine der demokratisch gewählten Regierungen in Tunis bewältigen konnte.

Von der Aufbruchstimmung des Arabischen Frühlings ist in Tunis nur noch wenig zu spüren. Die Schuld dafür trägt, so viel ist für Adel Ben Trad klar, die politische Elite. Die Parteien an der Spitze des Landes „denken nur an sich“, sagt der Metzger, der ein Geschäft auf dem für seine günstigen Preise bekannten Bab-El-Fall-Markt in der Hauptstadt betreibt.

In den vergangenen zehn Jahren habe er die Hälfte seiner Kunden verloren, sagt der 52-Jährige. Die verbliebenen feilschten mit ihm oft verzweifelt um die Preise für Steaks und Lammkoteletts. „Alles ist teurer geworden, aber die Löhne sind gleich geblieben“, sagt Trad. Auch er selbst habe Mühe, mit seinen monatlichen Einnahmen von 600 Dinar (180 Euro) über die Runden zu kommen. Den Griff von Präsident Saïed nach der Macht halte er angesichts der Lage für vollkommen richtig, sagt Trad. Mit dieser Haltung ist er nicht allein: Während die Regierungspartei Ennahdha dem Staatschef einen „Putsch“ vorwirft, zogen zehntausende Tunesier nach der Entmachtung der Regierung am Sonntag jubelnd auf die Straßen.

Aus Sicht vieler Tunesier hat die Politik es nach dem Arabischen Frühling versäumt, die großen Probleme des Landes anzupacken. Viele beklagen sogar, dass ihre Situation heute schlechter sei als während der autoritären Herrschaft des 2011 gestürzten Langzeit-Machthabers Zine El Abidine Ben Ali. Der Dinar befindet sich seit Jahren im freien Fall, die Staatsverschuldung beträgt inzwischen 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Im vergangenen Jahr brach die Wirtschaft um mehr als acht Prozent ein – die Corona-Pandemie brachte den zentralen Tourismussektor zum Erliegen. Derzeit befindet sich Tunesien in Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds für einen Notkredit – dem vierten in zehn Jahren. Einige Beobachter befürchten sogar einen Staatsbankrott.

Klüngelei und Bestechlichkeit

Neun Regierungen standen seit 2011 an der Spitze Tunesiens. Dass es keiner von ihnen gelang, die Wirtschaft anzukurbeln, sorgt in dem nordafrikanischen Land für Wut – und für Zweifel an der ohnehin brüchigen Demokratie. „Hauptverantwortlich für diese Krise“ sei die islamistisch geprägte Ennahdha-Partei, sagt der 40-jährige Haykel Mosbahi, der sich auf dem Markt in Tunis durch eine Kiste mit Secondhand-Kleidung wühlt. Die Partei von Parlamentschef Rached Ghannouchi war seit dem Arabischen Frühling an allen Regierungen in Tunis beteiligt. Zuletzt lähmte ein Machtkampf zwischen ihr und Präsident Saïed die Politik, der die Wut der Menschen zusätzlich befeuerte. Dass Saïed am Mittwoch ein hartes Durchgreifen gegen Korruption ankündigte, dürfte ihm bei vielen Sympathiepunkte einbringen. Viele Tunesier werfen der politischen Klasse insgesamt Klüngelei und Bestechlichkeit vor.

Mosbahi berichtet von seinem Leben vor dem Arabischen Frühling. Damals sei er Bauingenieur gewesen, seinen Job bei einem Bauunternehmen habe er während des Umsturzes 2011 verloren. Heute arbeitet der dreifache Familienvater als Wachmann – für ein Drittel seines früheren Lohns. „Stellenanzeigen richten sich nur an Ennahdha-Unterstützer“, sagt Mosbahi. Er hofft, dass Saïed Tunesien aus der Krise „herausholen“ wird.

Aber auch auf den Straßen von Tunis gibt es Stimmen, die Saïeds Vorgehen für falsch halten. Der Präsident begehe einen „Putsch“, sagt etwa der pensionierte Englisch-Lehrer Moncef Achouri. Wie früher Ben Ali verspreche Saïed „viele schöne Dinge, aber nichts wird sich ändern“. Doch auch Achouri zeigt Verständnis für jene seiner Landsleute, die sich nun hinter Saïed stellen. Zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling habe sich die „Situation vieler Leute nicht verbessert“, ihre neuen Freiheiten könnten sie deshalb nicht wertschätzen, sagt der Lehrer. „Freiheit macht nicht satt.“ (AFP)