StandpunktEine Frage der fiskalischen Bewegungsfreiheit

Standpunkt / Eine Frage der fiskalischen Bewegungsfreiheit
Allein im April haben 122 Millionen Menschen in Indien ihren Arbeitsplatz verloren Foto: AFP/Arun Sankar

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Die auffälligste unter den zahlreichen Ungleichheiten, die als Folge der Covid-19-Pandemie zutage getreten sind, besteht in dem dramatischen Unterschied zwischen den fiskalischen Gegenmaßnahmen der einzelnen Länder. Weltweit ist die Wirtschaftstätigkeit aufgrund der Lockdown-Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus zusammengebrochen. Während allerdings einige Industrieländer beispiellose Konjunkturprogramme schnüren konnten, waren die meisten Staaten dazu nicht in der Lage.

Seit März hat die US-Regierung zusätzliche Ausgaben in Höhe von über 14 Prozent des BIP angekündigt. In Japan liegt dieser Wert bei über 21 Prozent, verglichen mit beinahe 10 Prozent in Australien und etwa 8,4 Prozent in Kanada. In Europa führte die fehlende Einigkeit hinsichtlich starker gemeinsamer Konjunkturmaßnahmen zu vielfältigen Reaktionen auf die Krise, wobei sich die zusätzlichen Staatsausgaben in einem Bereich zwischen 1,4 Prozent des BIP in Italien und 1,6 Prozent in Spanien bis hin zu 9 Prozent in Österreich bewegen. Deutschland und Frankreich rangieren mit 4,9 beziehungsweise 5 Prozent im Mittelfeld. Aufgrund der strengen EU-Haushaltsregeln werden die Staatsausgaben in genau jenen Ländern beschränkt, die fiskalische Anreize am dringendsten benötigen würden.

Unterdessen haben geldpolitische Gegenmaßnahmen die auf subnationaler Regierungsebene in vielen Industrieländern verfügbaren haushaltspolitischen Kapazitäten erweitert. Durch Zinssenkungen, den Ankauf von Kommunal- und Regionalanleihen sowie die Einführung neuer Kreditfazilitäten für bestimmte Sektoren und Unternehmen haben die US-Notenbank Federal Reserve und andere große Zentralbanken alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt, um die Kreditkosten niedrig zu halten und die Liquidität öffentlicher Stellen zu erhalten.

Großer Schaden für Schwellenländer

Im Gegensatz dazu fielen die fiskalischen Maßnahmen in den meisten Entwicklungsländern enttäuschend aus – allerdings nicht deshalb, weil die wirtschaftlichen Bedingungen für diese Regierungen weniger herausfordernd wären. Im Gegenteil, Lockdown-Maßnahmen und die Unterbrechung des Welthandels sowie der Investitionstätigkeiten haben den Entwicklungs- und Schwellenländern bereits größeren Schaden zugefügt als der reichen Welt.

In Indien beispielsweise haben laut Schätzungen allein im April 122 Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. Schlimmer noch, trotz Lockdown-Maßnahmen stieg die Zahl der Covid-19-Fälle weiterhin rapide an. Rückläufige Überweisungen aus dem Ausland und stark sinkende Export- und Tourismuseinnahmen haben auch viele andere Entwicklungsländer in Mitleidenschaft gezogen, selbst solche mit weniger strengen Lockdown-Maßnahmen.

Doch trotz ausgedehnter Arbeitsplatzverluste und rückläufiger Haushaltseinkommen werden relativ wenig fiskalische Gegenmaßnahmen ergriffen. Obwohl Premierminister Narendra Modi gerade ein Konjunkturpaket im Ausmaß von 10 Prozent des BIP ankündigte, sind darin jedoch bereits früher erfolgte Zuweisungen von Finanzmitteln sowie die erwartete Wirkung der geldpolitischen Maßnahmen berücksichtigt. Zusätzliche öffentliche Ausgaben machen nur einen Bruchteil des Gesamtbetrags aus.

Systemische Ungleichheiten in der Weltwirtschaft

Diese Unterschiede sind auch innerhalb der G20 offenkundig. Ende April beliefen sich die zusätzlichen öffentlichen Ausgaben der Schwellenländer in dieser Gruppe auf durchschnittlich etwa 3 Prozent des BIP, während dieser Wert in den Industrieländern bei 11,6 Prozent lag. Aber selbst unter den Schwellenländern bestanden große Unterschiede: in Südafrika erhöhte die Regierung die zusätzlichen öffentlichen Ausgaben auf 10 Prozent des BIP, während dieser Wert in Indien unter 1 Prozent lag. Kein Wunder also, dass sich Länder niedrigen Einkommens außerhalb der G20 schwertaten, auch nur das kleinste Rettungspaket zu schnüren, geschweige denn irgendwelche ausreichenden Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus und zur Abwendung eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs zu ergreifen.

Ein Großteil dieser Unterschiede bei den fiskalischen Gegenmaßnahmen zwischen den Ländern lässt sich durch langjährige systemische Ungleichheiten in der Weltwirtschaft erklären, im Rahmen derer Entwicklungsländer Kredite in international anerkannten Reservewährungen aufnehmen müssen. Infolgedessen verfügen sie schlicht nicht über die fiskalische Freiheit jener Länder, die diese Währungen ausgeben. Aus diesem Grund ist eine Neuemission der Reservewährung des Internationalen Währungsfonds – der Sonderziehungsrechte – zu einer vordringlichen Priorität geworden.

Außerdem waren zahlreiche Entwicklungsländer schon vor der Pandemie durch einen Berg an Auslandsschulden belastet. So gaben beispielsweise die afrikanischen Länder (als Gruppe) mehr für den Schuldendienst als für die öffentliche Gesundheit aus. Obwohl viele Anleiheinhaber und andere Gläubiger die Notwendigkeit eines substanziellen Schuldenerlasses leugnen, lässt die bevorstehende Implosion des weltweiten Schuldenmarktes diesen unvermeidlich werden.

Furcht vor der Kapitalflucht

Schließlich führt die umfassende Unterbrechung der wirtschaftlichen Aktivitäten dazu, dass die Steuereinnahmen genau zu einem Zeitpunkt sinken, an dem die Regierungen ihre Ausgaben erhöhen müssen. Für Regierungen in Industrieländern, die Kredite direkt bei der Zentralbank aufnehmen können, ist dies kein wirkliches Problem. Für die meisten Entwicklungsländer stellt sich die Rechnung jedoch komplizierter dar. Selbst diejenigen ohne unmittelbare Sorgen hinsichtlich ihres Schuldendienstes haben wenig Lust, die öffentlichen Ausgaben auch nur in die Nähe des Niveaus anzuheben, das notwendig ist, um einen umfassenderen wirtschaftlichen Zusammenbruch zu verhindern.

Der Grund dafür ist einfach: Die meisten dieser Länder fürchten die Kapitalflucht. Seit Beginn der Pandemie sind bereits über 100 Milliarden Dollar aus diesen Ländern abgeflossen. Neben den Schulden in Fremdwährung befindet sich über ein Viertel der Schulden der Entwicklungsländer in lokaler Währung in ausländischer Hand und liberalisierte Kapitalverkehrsregeln in zahlreichen Ländern haben es Inländern erleichtert, ihre Mittel ins Ausland zu transferieren. All das gefährdet die Entwicklungsländer in hohem Maße, und die Angst vor den Finanzmärkten lässt sie selbst vor den offensichtlichsten und dringendst notwendigen Maßnahmen zurückschrecken.

Eine Frage von Leben und Tod

In Indien beispielsweise begründete ein Spitzenberater des Finanzministeriums das mickrige Ausmaß des staatlichen Konjunkturpakets mit wachsenden Bedenken hinsichtlich des indischen Kreditratings. Völlig außer Acht gelassen wird dabei, dass unzureichende Gegenmaßnahmen die Wahrscheinlichkeit eines großen wirtschaftlichen Zusammenbruchs ansteigen lassen, bei dem Hunderte Millionen Inder von Armut und Hunger betroffen sein werden. Ebenso bezeichnend war auch, dass der stellvertretende Finanzminister Südafrikas mit seinem durchaus vernünftigen Vorschlag, die Zentralbank solle Staatsanleihen direkt aufkaufen, Kontroversen auslöste.

In diesem selbst auferlegten Klima neoliberaler Angst wird die Idee, Kapitalkontrollen einzuführen, als verrückt abgetan, weil sie ausländische Investoren abschrecken würden. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie machen in den meisten Entwicklungsländern einen beträchtlichen Anstieg der öffentlichen Ausgaben jedoch unerlässlich. Und darüber hinaus stellt sich die Frage, wie viele ausländische Investoren (abgesehen von solchen, die billig Vermögenswerte einheimsen wollen) es in Volkswirtschaften zieht, die aufgrund fehlender fiskalischer Gegenmaßnahmen vollkommen darnieder liegen.

Schon lange vor der Pandemie war klar, dass die Finanzialisierung der Weltwirtschaft massive Ungleichheiten und unnötige wirtschaftliche Volatilität geschürt hatte. In dieser beispiellosen Krise ist die Notwendigkeit, diese Entwicklungen im Zaum zu halten, zu einer Frage von Leben oder Tod geworden.

* Jayati Ghosh ist Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Jawaharlal Nehru Universität in Neu-Delhi, Geschäftsführerin der International Development Economics Associates und Mitglied der Unabhängigen Kommission für die Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.
Copyright: Project Syndicate, 2020.

www.project-syndicate.org