Deutschland„Ein zuverlässiger Technokrat“: Lebenslange Haft nach Staatsfolter in Syrien

Deutschland / „Ein zuverlässiger Technokrat“: Lebenslange Haft nach Staatsfolter in Syrien
Anwar R. war nach seiner Flucht nach Deutschland von Folteropfern erkannt und 2019 in Berlin festgenommen worden Foto: dpa/Thomas Frey

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Ein Jahrzehnt nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs spricht ein Gericht in Koblenz ein historisches Urteil: lebenslange Haft für einen Mann, der in einem Gefängnis für Folter verantwortlich gewesen sein soll. Die Rede ist von einem „Meilenstein des Völkerrechts“.

Das Urteil in dem nach Angaben der Bundesanwaltschaft weltweit ersten Strafprozess um Staatsfolter in Syrien ist gesprochen: Das Koblenzer Oberlandesgericht (OLG) verhängte am Donnerstag eine lebenslange Haftstrafe gegen den Syrer Anwar R. Es sprach ihn unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig. Der 58-Jährige war nach Auffassung der Richter in einem Gefängnis des Allgemeinen Geheimdienstes in der syrischen Hauptstadt Damaskus als Vernehmungschef für die Folter von mindestens 4.000 Menschen verantwortlich. Politik und Menschenrechtsorganisationen begrüßten den Urteilsspruch.

Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, begrüßte den „historischen Schuldspruch“. Sie forderte andere Staaten auf, Ermittlungen und die strafrechtliche Verfolgung gravierender Menschenrechtsverletzungen voranzutreiben. Der Prozess in Koblenz habe den Fokus wieder darauf gelenkt, wie brutal die Menschenrechte in Syrien über mehr als ein Jahrzehnt hinweg verletzt worden seien.

„Intellektueller und leistungsstarker Technokrat“

Der im April 2020 begonnene Prozess ist somit am 108. Verhandlungstag zu Ende gegangen – noch ist das Urteil aber nicht rechtskräftig. Das Verfahren mit mehr als 80 Zeugen sowie mit einer Reihe von Folteropfern als Nebenkläger hatte international Aufsehen erregt. Der Angeklagte hatte sich selbst als unschuldig bezeichnet. Daher hatte seine Verteidigung auf Freispruch plädiert. Die Bundesanwaltschaft hatte lebenslange Haft und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld gefordert, was eine Haftentlassung nach 15 Jahren nahezu ausgeschlossen hätte. Letzteres stellte das Gericht nicht fest.

Vor Gericht steht hier nicht das syrische Regime. Hier geht es um das Verhalten, das dem Angeklagten individuell vorzuwerfen ist.

Die Vorsitzende Richterin Anne Kerber

Nach Überzeugung des Koblenzer OLG-Staatsschutzsenats hatte Anwar R. die Verbrechen gegen die Menschlichkeit 2011 und 2012 in der Anfangsphase des syrischen Bürgerkriegs begangen. Die Vorsitzende Richterin Anne Kerber sagte: „Vor Gericht steht hier nicht das syrische Regime. Hier geht es um das Verhalten, das dem Angeklagten individuell vorzuwerfen ist.“ Der Angeklagte habe sich als ein „zuverlässiger, intellektueller und leistungsstarker Technokrat“ erwiesen bei seiner Arbeit im Geheimdienst. Er habe von den Folterungen und Todesfällen gewusst. Er habe sich entschieden, das Regime zu unterstützen, auch im Bürgerkrieg, auch wegen der sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegschancen für ihn.

Das Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht erlaubt es, auch hierzulande mögliche Kriegsverbrechen von Ausländern in anderen Staaten zu verfolgen. Anwar R. wurde nach seiner Flucht nach Deutschland von Folteropfern erkannt und war 2019 in Berlin festgenommen worden. Amnesty International äußerte die Hoffnung, dass weitere Prozesse nach dem Weltrechtsprinzip angestrengt werden und nannte das Urteil ein „wichtiges Signal im Kampf gegen Straflosigkeit“. 

Der nächste Prozess nach dem Völkerstrafgesetzbuch zu Syrien startet am kommenden Mittwoch vor dem Oberlandesgericht Frankfurt gegen einen syrischen Arzt. Ihm wird vorgeworfen, 2011 und 2012 in einem Militärkrankenhaus und einem Gefängnis des Militärischen Geheimdienstes im syrischen Homs Menschen gefoltert zu haben. (dpa)