„Größer als TTIP“

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Weitgehend abseits der Öffentlichkeit wird die weitere Liberalisierung der Dienstleistungen verhandelt. TISA heißt das Abkommen, an dem 22 Staaten sowie die EU feilen.

TTIP, das Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union, ist seit Monaten in aller Munde. Und sorgt dort seit Monaten für einen verlässlich bitteren Beigeschmack. Von Chlorhühnchen über die Möglichkeit zu Investor-Staats-Klagen, mittels derer Unternehmen Staaten verklagen können – die Palette der potenziellen Angstmacher ist beträchtlich. Der Widerstand gegen TTIP ist es genauso.

Teilnehmer an den Verhandlungen
Europäische Union, Australien, Kanada, Chile, Taiwan, Kolumbien, Costa Rica, Hongkong, Island, Israel, Japan, Korea, Liechtenstein, Mexiko, Neuseeland, Norwegen, Pakistan, Panama, Paraguay, Peru, Schweiz, Türkei, USA.

Bürger genau wie Nichtregierungsorganisationen machen mobil gegen die größtenteils geheimen Verhandlungen. Mit einigem Erfolg: TTIP ist aus den Niederungen der unbekannten Verhandlungsorte herausgeholt. Es ist, wie gesagt, in aller Munde. Doch es ist nicht das einzige Abkommen, an dem derzeit gefeilt wird. Das „Trade in Service Agreement“, kurz TISA, ist sogar umfänglicher als TTIP. Und könnte ebenso Risiken für Verbraucher bergen. “Es ist das größte und wichtigste Dossier in dieser Legislaturperiode.” Das sagt Viviane Reding, ehemalige Vizepräsidentin der Europäischen Kommission und mittlerweile Mitglied des Europaparlamentes.

Bereits zehn Verhandlungsrunden

Das Abkommen, das 22 Staaten plus die EU seit Mitte 2013 in Genf und mittlerweile in der zehnten Runde aushandeln (europäischer Verhandlungspartner ist die Kommission), hat eine weitere Liberalisierung des Dienstleistungssektors zum Ziel. Der EU geht es besonders um die Reziprozität im Handel mit Dienstleistungen. Man will – nach dem Modell „Wie du mir, so ich dir“ – wettbewerbsfähiger werden. Was für internationale, in Europa investierende Unternehmen gilt, soll ebenso für europäische Unternehmen, die im außereuropäischen Ausland tätig sind, rechtens sein. Einseitige Beschränkungen sollen wegfallen oder ausgeglichen werden.

Mit TISA soll das GATS-Abkommen (General Agreement on Trade in Services) der Welthandelsorganisation, 1995 und somit in der digitalen Steinzeit unterzeichnet, ein längst überfälliges Upgrade erhalten. GATS wurde ab der Jahrtausendwende zwar neu verhandelt. Abgeschlossen wurden diese Verhandlungen aber nie. So dass 22 Staaten und die EU begannen, eigenständige Verhandlungen zu führen. Die Geburtsstunde von TISA.

BRICS-Staaten halten sich raus

Die BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, Südafrika und China sucht man vergeblich am Verhandlungstisch. China zeigte zwar jüngst Interesse. Was, wie ein in den Fortgang der Verhandlungen Eingeweihter meint, die Amerikaner jedoch ablehnten. Mit Handel habe die Weigerung der Amerikaner nichts zu tun. „Dabei geht es um Geopolitik.“

Für die Europäer könnte es indes um ihre Privatsphäre gehen. Um ihr alltägliches Leben. Viviane Reding, Berichterstatterin des Europäischen Parlamentes in diesem Dossier, tut ihre Bedenken kund. TISA sei, in Sachen Datenschutz, eine “Hintertür“ für die Amerikaner. Was an europäischen Datenschutzbestimmungen aus den TTIP-Verhandlungen herausgenommen werden konnte, liege nun über TISA erneut auf dem zwar internationalen, gleichwohl us-amerikanisch geprägten Verhandlungstisch. Viviane Reding hat Bedenken um die Sicherheit der Daten europäischer Bürger und Unternehmen. Auf dem Spiel stehen geschäftliche Interessen ebenso wie Privatsphäre.

Terror als Vorwand für Kontrolle

Es geht darum, welche Daten frei und vollumfänglich ihre Reise über den Atlantik antreten sollen, um in den USA verwertet zu werden. Immer unter dem Vorwand der Sicherheitsbedenken einzelner Staaten. Aber ab wann ist der Kampf gegen den Terror nur noch Vorwand für die Kontrolle aller? Und ob die Kontrolle der Überwachung jedes Einzelnen oder der Kommerzialisierung jedes einzelnen dient, ist ähnlich deprimierend.

Bei TISA geht es aber um mehr als Datenschutz. Das Freihandelsabkommen betrifft den Dienstleistungssektor. Und der ist weitgefächert. Darunter fallen Bereiche wie die Finanzindustrie, der Transport, die Telekom-Sparte, eCommerce, aber auch Teile des öffentlichen Dienstes – wie etwa Erziehung und Schule, Gesundheit und Wasserversorgung.

TTIP-Gegner dürfte nun das Gefühl eines unangenehmen Déjà-vu beschleichen. Hatten wir das nicht alles schon? Wird nun erneut oder gar doppelgleisig versucht, europäische Errungenschaften mit dem Liberalisierungshammer zu brechen. Ein in den Fortlauf der Verhandlungen eingebundener Experte beschwichtigt. TISA sei ein A-la-carte-Abkommen. Alle teilnehmenden Staaten könnten selbst entscheiden, welche Bereiche ihrer Wirtschaft sie öffnen wollten oder lieber geschlossen hielten.

Vorteile für die EU

Für die EU berge das Abkommen nur Vorteile. Denn bislang sei es besonders für europäische Unternehmen, etwa aus der Finanzdienstleistungsbranche erheblich teurer, wenn diese ihre Dienste außerhalb der EU anböten. Die EU aber stehe quasi der ganzen Welt offen.

Auch Viviane Reding findet dies ungerecht und will nicht, dass “wir immer die Dummen spielen”. Komme TISA zu einem Abschluss, werde dies, so Reding, die “europäische Art und Weise zu funktionieren verändern”. Zum Guten hin, oder sagen wir: zum Profitableren hin. Unterdessen wird weiter verhandelt. Bis Ende 2016 wollen die teilnehmenden Länder einen Vertragsabschluss erzielen in diesem Abkommen, das Viviane Reding , „grösser als TTIP“ einschätzt.

Armand Back