Furcht vor Pannen in zehn Reaktoren

Furcht vor Pannen in zehn Reaktoren
(Tageblatt-Archiv)

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Der Chef der nationalen nuklearen Sicherheitsagentur ANS in Frankreich warnt vor möglichen Pannen in zehn Atomreaktoren.

Pierre-Franck Chevet ist der Chef der Sicherheitsagentur, die unabhängig von Regierungsweisungen arbeitet. In einem Interview mit der französischen SonntagsZeitung „Journal du Dimanche“ nimmt er in einer in Frankreich seltenen Klarheit Stellung zu Problemen des Energiesektors. Die französischen Atomreaktoren seien standardisiert, erklärt Chevet. Das bedeute, dass ein Problem, das bei einem Reaktor auftrete, auch bei anderen Reaktoren auftreten könne. Bei einer schwerwiegenden Anomalie, etwa bei einem Austritt nuklearer Gase oder Flüssigkeiten, oder bei Korrosionen sei es vorstellbar, dass gleich fünf oder zehn Reaktoren betroffen seien. Und dann würde seine Behörde diese fünf oder zehn Reaktoren auf unbestimmte Zeit stilllegen.

Das Problem dieser Standardisierung sei auch, dass man ein Problem früher oder später erkenne. Früh erkannt, könne man bei anderen Reaktoren vorbeugend handeln, spät erkannt, können die Anomalie eben zahlreiche Reaktoren gefährden. Chevet erklärt auf ausdrückliche Nachfrage der Zeitung, dass in seiner Agentur ein Szenario mit Schließung von fünf oder zehn Kernreaktoren als „plausibel, möglicherweise realistisch, jedenfalls nicht unmöglich“ angesehen werde. „Wir sind vor 20 Jahren knapp daran vorbeigeschrappt, als im Kernkraftwerk von Bugey Risse im Deckel des Reaktorbeckens entdeckt wurden. Derzeit sehe ich eine derartige Gefahr nicht, aber sie stellt die Priorität eins unserer Bschäftigung dar. Und das sollte es auch für EDF (der französische Strom-Monopolist, Anm. d. Red) sein“, sagt Chevet. Wenn so etwas eintrete, müsse EDF in der Lage sein, den Ausfall der Stromproduktion von fünf oder zehn Reaktoren zu verkraften.

Überaltert

Es gebe durchaus Probleme bei den Reaktoren, gab Chevet zu. Im Kraftwerk Tricastin gebe es Probleme mit dem Reaktorkessel. Das Kernkraftwerk Blayais (an der Atlantik-Küste) sei überschwemmt worden. Jedes Kernkraftwerk habe seine Eigenheiten, die gesondert behandelt würden. Sobald man Zweifel an seiner Sicherheit habe, würde man es schließen.

Frankreich steht vor grundsätzlichen Entscheidungen zu seiner Energieversorgung. Zwischen 2020 und 2030 erreichen jedes Jahr fünf bis sechs Reaktoren die Altersgrenze von 40 Jahren, für die sie ursprünglich gebaut wurden. EDF müsse sich jetzt schon Gedanken über die Zukunft machen. Denn der Zeitraum von sieben bis 17 Jahren sei gerade ausreichend für den Bau neuer Atomkraftwerke oder eine neue Strategie der Energieversorgung.

Ermüdungserscheinungen

EDF dürfe sich nicht darauf verlassen, dass man die bestehenden Atomkraftwerke automatisch in Richtung 60 Jahre Gesamtlaufzeit verlängern werde. EDF müsse erheblich an der Sicherheit der Reaktoren arbeiten, wenn das Unternehmen darauf setze, die Laufzeit zu verlängern. Wenn das Material wie etwa das Reaktorbecken Ermüdungserscheinungen aufweise und nicht ausgetauscht werden könnte, dann würde der Reaktor gestoppt. Im kommenden Jahr müsse EDF entscheiden, wie man den zukünftigen Kraftwerkspark gestalten wolle: nuklear, mit Gaskraftwerken oder mit alternativen Energien. EDF hat aber bei der Versorgung mit Gas im kommenden Winter gerade seine Nachbarstaaten um Hilfe gebeten, weil das Unternehmen bei einem harten Winter mit Problemen rechnet.

Der Chef der Sicherheitsagentur wiederholt in dem Interview Dauer-Positionen der ASN. Er gibt erstmals zu, dass es Bedenken zum französischen Nuklearsystem gibt. Die ASN hat zwar die Möglichkeit, einen Reaktor auch unbegrenzt zu stoppen. De facto macht sie davon aber nicht Gebrauch. Der Reaktor-Park in Cattenom hat nach ASN-Aussagen im vergangenen Jahr im Durchschnitt vier Pannen pro Monat aufgewiesen, die von der ASN genau dokumentiert wurden. Wirkliche Maßnahmen, um die Sicherheit in Cattenom zu verbessern hat die Agentur allerdings nicht unternommen.

Sorgenkind Cattenom

Das Interview mit dem ASN-Chef wirft allerdings neue Fragen auf. Cattenom gehört zu der Kette der 1.200 Megatt Reaktoren in Frankreich. Wenn Pannen in Cattenom passieren, so wie man sie bei den Sauglöchern in den Rohren im Reaktorbecken festgestellt hat, treffen diese Pannen dann auch auf andere Reaktoren in Frankreich zu? Oder: Finden sich Pannen aus dem nicht-nuklearen Bereich, die zum Anhalten der Reaktoren führen, auch in anderen Reaktoren in Frankreich wieder? Cattenom fällt auf durch nachlässiges Handeln des Personals oder durch Ermüdungserscheinungen des Materials. Gilt das auch für andere Reaktoren in Frankreich? Macht die ASN hier Auflagen an andere Reaktoren in Frankreich die so konstruiert sind wie Cattenom? Das sind Fragen, die durch das Interview des ASN aufgeworfen werden.

Frankreich erzeugt 78 Prozent seines Energiebedarfs in 58 aktiven Kernreaktoren. Information der französischen SonntagsZeitung JDD zufolge ist der Atomstrom teuer. Er soll 42 Euro pro Megawattstunde kosten. Der Preis für Strom aus französischen Wasserkraftwerken soll zwischen 25 und 30 Euro pro Megawattstunde liegen. Frankreich produziert alleine in seinen 400 Wasserkraftwerken die von der EDF an Betreiber vergeben wurden, so viel Strom wie 27 Kernkraftwerke zusammen.