/ Frankreich ist ratlos
84 Tote, darunter zehn Kinder. Über 200 Verletzte, zum Teil so schwer, dass sie um ihr Leben kämpfen müssen. Einige werden den Kampf verlieren und die Zahl der Toten erhöhen.
Auf dem Marsfeld in Paris lauschten 100.000 Menschen beim Konzert zum Nationalfeiertag der Beethoven Hymne mit den Worten „alle Menschen werden Brüder“, sangen ergriffen eine konzertante Version der Nationalhymne. Zum selben Zeitpunkt stieg in Nizza der 31 jährige Tunesier Mohamed Lahouaiej-Bouhlem in seinen Lastwagen.
Am Tag zuvor hatte er den 19 Tonner Kühl-Lastwagen gemietet und innerhalb der Zone geparkt, die später die Sicherheitszone für das Feuerwerk zum Nationalfeiertag werden sollte. Mohamed Lahouaiej-Bouhlem, konnte mit seinem Lastwagen ungehindert aus der Seitenstraße auf die „Promenade des Anglais“ einbiegen und im Zick Zack Kurs eine tödliche Schneise in Familien mit Kindern zu fahren, die ein fröhliches Fest feiern wollten. Die Kinder wollten mit ihren Eltern eigentlich nur das Feuerwerk am Nationalfeiertag sehen.
Mobilisierung von Reservisten
Staatspräsident Francois Hollande hatte am Mittag des Nationalfeiertages im traditionellen Interview mit den Fernsehsendern TF1 und France 2 gesagt, dass es seine Aufgabe sei, Frankreich und die Franzosen zu beschützen. Er werde aber den Ausnahmezustand zum 26. Juli aufheben, weil „Frankreich nicht dauernd im Ausnahmezustand leben“ könne. Am Abend war Francois Hollande in Avignon. Als er die Nachricht von den Ereignissen in Nizza hörte, kehrte er nach Paris zurück, beriet sich mit dem Sicherheitsrat und kündigte in der Nacht die Verlängerung des Ausnahmezustandes um weitere weitere Monate an. Frankreich wird Reservisten mobilisieren und seine Grenzen bewachen, kündigte der Staatspräsident an.
Anders als nach den bisherigen Anschlägen fand Frankreich keine Zeit zu einmütiger nationaler Trauer. Die Flaggen hängen Samstag, Sonntag und Montag zwar auf halbmast. Aber die französische Politik zeigte sich vom ersten Moment an gespalten. Von Bankrott-Erklärung sprach die bürgerliche Rechte, die allen Überlegungen freien Raum ließ.
Internierungslager gefordert
Der rechte Politiker Eric Ciotti forderte eine Art Internierungslager für extreme Muslime. Georges Fenech, Vorsitzender eine Untersuchungsausschusses, der die Anschläge des 13. November untersucht hatte, zeigte sich enttäuscht, weil die Regierung die Vorschläge zur Verbesserung der inneren Sicherheit, die vor allem auf eine bessere Kooperation der Sicherheitskräfte und eine Stärkung des Inlandsgeheimdienstes hinausliefen, abgelehnt hatte.
Die französische Opposition von rechts außen bis links außen warf der Regierung „Naivität“ vor. Die Präsidentin der rechtspopulistischen Bewegung Nationale Front sprach von 10.000 radikalisierten Menschen in Frankreich mit einer „mehrfachen Glycerin-Sprengwirkung“, blieb Lösungen allerdings schuldig. Der Abgeordnete Eric Ciotti denkt über einen dauerhaften Ausnahmezustand nach. Selbst der gemäßigte frühere Ministerpräsident Francois Fillon denkt darüber nach, ob der Ausnahmezustand alleine ausreicht.
Ausnahmezustand als Problem
Der Ausnahmezustand an sich ist dabei das Problem. Er hat das Attentat von Nizza nicht verhindert. Der Lastwagen wurde erst nach zwei Kilometern, 84 Toten und über 200 Verletzten gestoppt. Während des Ausnahmezustandes seien gewalttätige Demonstrationen genehmigt worden, sagen Kritiker. Auch die Grenzkontrollen werden angezweifelt. Die Attentäter des 13. November kamen problemlos durch eine solche Kontrolle auf ihrer Flucht nach Belgien.
In der Kritikwelle, die über der Regierung zusammenschlägt, rufen Premierminister Valls und Staatspräsident Hollande ohne großen Erfolg das Land zur Einigkeit auf. Erstmals aber bekunden alle moslemischen Organisationen quer durch Frankreich ihre Trauer, ihr Mitgefühl und ihre Distanz zu dem Attentat, zu dem sich am Samstag der Islamische Staat bekennt. Allerdings ist nicht sicher, ob er nicht einfach die Tat eines Amokläufers für sich reklamiert.
„Sicherheit geht vor“
Zweifel an den Maßnahmen in Frankreich gibt es ebenfalls. Wirtschaftsminister Emmanuel Macron hatte schon 2015 nach dem Attentat gegen das satirische Magazin Charlie Hebdo darauf verwiesen, dass die Attentäter nicht aus dem Ausland kämen sondern junge Franzosen seien. Als er 2016 nach den Attentaten in Paris erneut darauf verwies, dass die Attenäter junge Franzosen seien, die man besser in die Gesellschaft integrieren müsse und denen man Perspektiven geben müsse, brach ein Empörungssturm los.
Innenminister Bernard Cazeneuve setzte sich, gestützt von Premierminister Valls, damals durch und gab die Parole aus „Sicherheit geht vor“. In Nizza reichten die Sicherheitsmaßnehmen nicht aus, kritisiert der Bürgermeister. Für die Sicherheit ist die Präfektur zuständig und damit die französische Regierung. Vorsichtig wird auch, allerdings nur von Experten, Kritik an der Kommandostruktur geübt. Französische Sicherheitskräfte arbeiten auf Befehl. Sie warten ab und schauen zu bis zum Einsatzbefehl.
Bevölkerung muss ihr Verhalten
Um so schlimmer ist, was die Experten sagen. Jeder Radio- und Fernsehsender hat seinen Terrorismus- und Islam Experten. Sie sagen übereinstimmend, dass es weitere Attentate geben wird. Aber sie sagen auch, dass die französische Bevölkerung ihr Verhalten ändern muss. In Israel zum Beispiel säße in den Cafés niemand mehr mit dem Rücken zur Straße, beobachteten die Leute ihr Umfeld genau und informierten die Polizei bei Auffälligkeiten sofort. Genau dieses Verhalten empfehlen die Experten den Franzosen.
Am Tag nach dem Attentat schmücken Blumen den Tatort, liegen Teddybären dort, wo Kinder überfahren wurden. Die Menschen singen mehrfach die Marseillaise. Wo in Paris Schillers „alle Menschen werden Brüder“ bejubelt und die Nationalhymne konzertant und melodisch gesunden wird, heißt es in Nizza kämpferisch und trotzig: „Zu den Waffen, Bürger, Formiert Eure Truppen“!
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