/ EU-Gegner versus EU-Enthusiast
Erst der Brexit am 23. Juni, dann die Wahl von Donald Trump im November vorigen Jahres haben nicht nur das Vertrauen in die Demoskopen nachhaltig geschmälert. Es ging dabei auch die Gewissheit darüber verloren, dass Wahlen etwas mit Vernunft und Berechenbarkeit zu tun haben und eine Mehrheit der Wähler sich nicht auf Experimente einlassen will, die schon von vornherein auf falschen, zumindest aber konstruierten Annahmen beruhen.
Diese Erfahrung spielt bei den anstehenden räsidentschaftswahlen in Frankreich mit. Denn sowohl Marine Le Pen vom Front national als auch Jean-Luc Mélenchon von „La France insoumise“ legen es darauf an, die EU und die Eurozone zu verlassen. Die rechtsextreme EU-Gegnerin, die laut Umfragen als Siegerin aus der ersten Wahlrunde hervorgehen könnte, will diese Entscheidung relativ zügig angehen. Die FN-Chefin will raus aus dem Euro und den Franc wieder einführen sowie den Schengenraum verlassen und wieder Grenzkontrollen einführen. Sie strebt Neuverhandlungen über die EU-Verträge an. Sechs Monate nach deren Beginn sollen die Franzosen dann in einem Referendum über den Verbleib des Landes in der EU entscheiden.
Unrealistische Vorstellungen
Auch der Kandidat von „La France insoumise“ will die EU-Verträge neu aushandeln und das Resultat einem Volksentscheid unterwerfen, bei dem ebenfalls über den Verbleib in der EU entschieden werden soll. Mélenchons Plan B sieht jedoch vor, sofort aus der EU auszutreten, wenn es nicht zu Neuverhandlungen kommen sollte. Der EU-Parlamentarier ruderte allerdings am Dienstagabend während einer Wahlkampfveranstaltung zurück und relativierte seine Absicht, Plan B überhaupt umzusetzen.
Es erstaunt schon, mit welch unrealistischen Vorstellungen diese Kandidaten an die Europapolitik herangehen. Während Mélenchon und Le Pen auf die nationale Karte setzen und meinen, die EU-Verträge kurzfristig umgestalten zu können, was beim letzten Mal vom Beginn der Verhandlungen bis zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages immerhin neun Jahre in Anspruch nahm, nimmt sich der PS-Kandidat Benoît Hamon eher bescheiden aus. Er will lediglich den Wachstums- und Stabilitätspakt weitgehend lockern. Die Umfragen lassen jedoch erkennen, dass dem PS-Kandidat eine Abfuhr mit seinem Ansinnen erspart bleiben wird.
Sonderbehandlung bei Budgetdefizit
Denn nicht nur Deutschland, sondern auch andere Euro-Staaten denken nicht daran, auch nur ein weiteres Komma an den Maastrichter Kriterien zu ändern. In Berlin sieht man gerne darüber hinweg, dass die Regierung von François Hollande es nicht zustande gebracht hat, das Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen. Dass Frankreich wegen seines überbordenden Budgets noch immer kein Defizitverfahren aus Brüssel am Hals hat, hat Paris vor allem aber dem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zu verdanken. Dieser hatte im Juni vergangenen Jahres auf die Frage, warum er trotz des klaren Verstoßes Frankreichs gegen die Haushaltsregeln der Eurozone so viel Nachsicht mit Paris habe, lapidar geantwortet: „Weil es Frankreich ist.“
Von den beiden Extremen unterscheiden sich die anderen Kandidaten. Der Konservative François Fillon, der 1992 gegen den Maastrichter Vertrag gestimmt hatte, will den Stabilitätspakt beibehalten und spricht sich für mehr Haushaltsdisziplin aus. Die Eurozone will er der Aufsicht der EU-Staats- und Regierungschefs unterstellen. Dies ist auch Ausdruck einer generellen Tendenz bei François Fillon, die Europapolitik mehr auf einer intergouvernementalen Ebene abzuwickeln. Daher ist sein Vorschlag zur Schaffung einer Verteidigungsunion nicht als der Beginn einer gemeinschaftlichen Verteidigungspolitik mit eventuell einer EU-Armee zu verstehen. Ihm schwebt lediglich eine engere Zusammenarbeit der nationalen Armeen vor.
Die beiden ehemaligen Minister unter François Hollande zeigen sich als klare EU-Befürworter, wobei allein Emanuel Macron einen betont proeuropäischen Wahlkampf führt. Er und Benoît Hamon, der von 2004 bis 2009 EU-Parlamentarier war, haben gemeinsam, dass sie ein eigenes Parlament mit einem Haushalt für die Eurozone vorschlagen, wobei Macron zusätzlich einen Euro-Finanzminister einsetzen will. Mit einem Investitionsplan von 1.000 Milliarden Euro will der PS-Kandidat die Wirtschaft in der Union wieder ankurbeln. Dabei wurde bereits im Dezember der von Juncker initiierte Investitionsplan verlängert und auf 500 Milliarden Euro aufgestockt. Hamon will zudem einen europäischen Mindestlohn einführen, die Staatsschulden ab 60 Prozent des BIP vergemeinschaften und das Freihandelsabkommen CETA mit Kanada rückgängig machen.
Mehr Engagement für Europapolitik
Dieses Abkommen will Macron als einziger der fünf in den Umfragen bestplatzierten Kandidaten umsetzen. Der sozialliberale ehemalige Wirtschaftsminister will jedoch auch Ausschüsse zur Kontrolle von Handelsabkommen einsetzen, soziale Standards sowie Kontrollen von Investitionen aus Drittstaaten in der EU einführen.
Von Macron ist auszugehen, dass er sich stärker als seine Konkurrenten in der Europapolitik engagieren und Frankreichs Gewicht, nicht nur beim deutsch-französischen Motor wieder mehr in die Waagschale legen würde. Manche malen sich bereits aus, dass im Herbst in Deutschland der ehemalige EP-Präsident und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz das Rennen macht und dieser im Verein mit Macron der EU neue Impulsen geben könnte.
Das wäre aus EU-Sicht die ideale Variante. Ein – wenn auch sehr unwahrscheinliches – Gegenszenario wäre eine zweite Wahlrunde mit Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon. Allerdings bräuchten beide, egal wer aus der Stichwahl als Sieger hervorgehen würde, um ihre Pläne umzusetzen, auch eine entsprechende Regierung.
Keine Chance
Dass eine der beiden Parteien – FN oder La France insoumise – bei den Parlamentswahlen im Juni in eine Position geraten könnte, in der sie unumgänglich bei der Regierungsbildung wäre, ist nun doch mehr als unwahrscheinlich. Dennoch: Es wäre ein Schock für die EU, wenn eine Marine Le Pen Präsidentin werden würde, der sicherlich nachhaltiger wirken würde, als es der Brexit tut.
Allerdings: Der FN-Chefin werden in den Umfragen keine Chancen eingeräumt, gegen nur einen der drei aussichtsreichsten Gegenkandidaten – Macron, Fillon, Mélenchon – in der Stichwahl zu gewinnen. Der ermittelte Abstand ist in allen Fällen derart groß, dass selbst die schlechteste der Umfragen nicht danebenliegen dürfte.