Droht ein Krieg mit Chemiewaffen?

Droht ein Krieg mit Chemiewaffen?

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Ein Krieg der Guten gegen die Bösen. In Hollywood gibt es das. In Syrien nicht. Alle Konfliktparteien begehen blutige Verbrechen, anscheinend skrupellos. Und es wächst die Angst vor Chemiewaffen.

Der Arzt stand am Fluss Kuwaik in Aleppo und zählte. Er kam auf 140. So viele Leichen habe er persönlich im Wasser treiben sehen, sagte der Mediziner der Syrien-Untersuchungskommission. Diese Menschen seien zuvor in jenem Teil Aleppos, der von Regierungstruppen kontrolliert wird, in Gefängnissen „verschwunden“, berichtete die unabhängige Syrien-Kommission am Dienstag dem UN-Menschenrechtsrat in Genf. Sie seien ermordet und ihre Leichen seien einfach in den Fluss geworfen worden.

Wie ein Kompendium des Grauens liest sich der jüngste Bericht der Expertengruppe unter Leitung des brasilianischen Diplomaten Paulo Pinheiro: Tausende getötete Zivilisten, mindestens 17 Massaker allein im Berichtszeitraum Mitte Januar bis Mitte Mai. Systematische Vergewaltigungen, willkürlich Erschießungen, gezielte Angriffe auf Zivilisten.

Kriegsverbrechen sind Routine geworden

Geschildert wird eine tägliche Routine von Kriegsverbrechen. Begangen werden sie längst nicht mehr allein von Regierungstruppen, sondern immer öfter auch von jener Seite, die einst zur „Revolution der Würde“ gegen die Assad-Diktatur aufrief. „Video-Aufnahmen zeigen ein Kind“, liest man, „das an der Enthauptung von zwei Männern teilnimmt.“ Die Geköpften seien Soldaten gewesen. Die Bluttat wird Rebellen zugeschrieben.

Der Krieg habe ein bislang nicht gekanntes Ausmaß an Brutalität erreicht und beginne, die gesamte Region zu destabilisieren, warnte Pinheiro vor dem Menschenrechtsrat: „Syrien befindet sich im freien Fall.“ Zugleich machte die Kommission klar, dass alle bisherigen Bilder des Grauens durch ein noch viel größeres Schreckensszenario in den Schatten gestellt werden könnten: Massenmorde mit Chemiewaffen.

Regime besitzt Sarin

Längst sind Geheimdienste überzeugt, dass das Regime über große Mengen des gefährlichen Nervengases Sarin und andere hochgiftige Kampfstoffe verfügt. Doch wird es sie einsetzen? Das fragt sich die Welt seit Monaten. Ja, sagen vor allem jene Politiker im Westen, die – wie die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens – eine baldige Aufrüstung der Opposition mit modernen Waffen befürworten.

Zum ersten Mal konstatierte nun die Syrien-Untersuchungskommission in einem Bericht an die UN, dass es Hinweise auf den Einsatz von Chemiewaffen gegeben habe. Die meisten beträfen das Vorgehen von Regierungstruppen. Demnach sollen bei vier Angriffen in den Provinzen Aleppo, Idlib und Damaskus am 19. März sowie am 13. und 19. April „in eingeschränktem Maße giftige Chemikalien“ benutzt worden sein.

Ist das nun die Überschreitung der „rote Linie“, vor der US-Präsident Barack Obama den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad unter Androhung von „Konsequenzen“ gewarnt hatte? Das dürfte – nicht ganz unähnlich wie vor dem Beginn des Irakkrieges im Frühjahr 2003 – auch eine Frage der Interpretation und der ihr zugrundeliegenden Interessen sein. Die Syrien-Kommission schränkt allerdings ein: Ein klarer Beweis fehle. Weitere Untersuchungen vor Ort seien nötig.

„Gas wird in Mini-Mengen verwendet“

In Genfer Diplomatenkreisen hält man es nicht für abwegig, dass Assad chemische Kampfstoffe in einem minimalen Umfang einsetzen ließ. Der 2012 geflohene einstige Leiter der Chemiewaffen-Einheit der syrischen Armee, Ex-General Adnan Sello, hatte im Nachrichtensender Al-Arabija erklärt: Das Giftgas werde in Mini-Mengen verwendet, um „Angst und Schrecken zu verbreiten“, ohne viele Menschen zu töten.

Vielleicht auch, um ohne allzu große Risiken zu demonstrieren, wozu man fähig wäre? Zum Beispiel im Falle massiver Waffenlieferungen des Westens an die Rebellen? Pinheiro lässt sich auf solche Spekulationen nicht ein. Doch bei der Übergabe seines Berichtes warnte er: „Es ist eine Illusion zu glauben, dass mehr Waffen die Balance kippen würden. Niemand wird diesen Krieg gewinnen. Mehr Waffen werden allein dazu führen, dass noch mehr Zivilisten getötet oder verwundet werden.“