Draghi warnt vor Brexit-Folgen

Draghi warnt vor Brexit-Folgen
(Reuters/Pascal Rossignol)

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Keine Woche nach dem britischen Brexit-Votum kommen Angela Merkel und ihre EU-Kollegen erstmals zusammen. Für Premier Cameron gibt es harte Worte. Der EU-Austritt würde nicht nur sein Land treffen - die Wirtschaft weit über Großbritannien hinaus dürfte leiden.

Der Schock des britischen Austrittsvotums hat die EU nicht nur politisch erschüttert – auch ihre Wirtschaft dürfte nach Einschätzung der Europäischen Zentralbank (EZB) schwer leiden. Das Wachstum in der Eurozone könnte in den nächsten drei Jahren um insgesamt 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte geringer ausfallen als bisher angenommen, warnte EZB-Chef Mario Draghi laut Diplomaten am Dienstag beim Brüsseler EU-Gipfel. Ein geringeres Wachstum in Großbritannien werde Auswirkungen auf die Eurozone als wichtigsten Handelspartner der Briten haben.

Die Staats- und Regierungschefs ließen sich am Abend von Großbritanniens Premier David Cameron die Vorstellungen seines Landes für den weiteren Weg erläutern. Bei dem Referendum hatten am Donnerstag 52 Prozent der britischen Wähler für einen EU-Austritt gestimmt.

„Doppeltes Spiel“

Kanzlerin Angela Merkel und andere Spitzenpolitiker warnten London vor Rosinenpickerei. Mehrere Gipfelteilnehmer verlangten von Großbritannien, den Austrittswunsch zügig formell mitzuteilen, damit die Scheidungsverhandlungen beginnen können. Ein „doppeltes Spiel“ werde nicht akzeptiert, warnte Belgiens Premierminister Charles Michel am Rande des Gipfels.

Merkel (CDU) machte unmittelbar zuvor in einer Sondersitzung des Bundestags deutlich, dass sie Großbritannien keine Sonderrolle zugestehen will. «Wir werden sicherstellen, dass die Verhandlungen nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt werden», sagte sie in ihrer Regierungserklärung. Ähnlich äußerte sich auch SPD-Chef Sigmar Gabriel bei einem Treffen seiner europäischen Parteienfamilie in Brüssel.

Merkel sagte weiter: „Es muss und es wird einen spürbaren Unterschied machen, ob ein Land Mitglied der Familie der Europäischen Union sein möchte oder nicht.“ Zudem würden erst nach einer britischen Austrittserklärung Scheidungsverhandlungen aufgenommen – anders als sich das viele in London vorstellen.

EU-Ratspräsident Donald Tusk plant bereits ein weiteres informelles Gipfeltreffen ohne Großbritannien. Dazu will er für September einladen, wie er ankündigte. Bereits an diesem Mittwoch tagen die Staats- und Regierungschefs in diesem neuen 27er-Format.

Nach Einschätzung von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz könnte London im September offiziell seinen Austrittswunsch in Brüssel anmelden. Denn bis Anfang des Monats soll feststehen, wer Cameron als Chef der britischen Tories – und damit als Regierungschef – folgt. Cameron selbst hat deutlich gemacht, dass er in seiner Amtszeit nicht mehr den Austritt in Brüssel anmelden wird. Erst ab diesem Zeitpunkt läuft die Uhr für die bis zu zweijährigen Scheidungsverhandlungen. London spielt dabei offenbar auf Zeit. Auch die EU-Abgeordneten verlangten in einer Resolution eine rasche Austrittserklärung.

Informelle Vorgespräche, auf die manche in London hoffen, will EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker verhindern. „Ich habe meinen Kommissaren verboten, mit Vertretern der britischen Regierung zu diskutieren“, sagte er. „Ich möchte nicht, dass der Gedanke sich breitmacht, dass es hier geheime Verhandlungen geben könnte, in einem dunklen Hinterzimmer mit zugezogenen Gardinen.“

Die ungewisse Lage macht die Europäer nervös. „Die Unsicherheit, die wir derzeit haben, ist für niemanden gut“, merkte der schwedische Ministerpräsidenten Stefan Löfven an. EU-Parlamentspräsident Schulz nannte sie gar das „größte Problem“: „Wir können nicht zu lange warten.“ Er verwies darauf, dass Großbritannien die Bestnote AAA bei einigen Ratingagenturen verloren hat. Diese bewerten die Kreditwürdigkeit von Schuldnern, auch von Staaten.
Von seinen europäischen Partnern musste sich Cameron schwere Vorwürfe gefallen lassen. „England ist zusammengebrochen“, mit seiner Politik ebenso wie der Währung, der Verfassung und der Wirtschaft, sagte der niederländische Regierungschef Mark Rutte.

Cameron selbst erklärte, er setze auch weiterhin auf eine enge Bindung seines Landes an die Europäische Union. „Ich hoffe sehr, dass wir bei Handel, Zusammenarbeit und Sicherheit eine Beziehung anstreben werden, die so eng wie möglich ist.“

US-Präsident Barack Obama, der sich für einen Verbleib Großbritanniens in der EU eingesetzt hatte, warnte die Europäer nun vor Hysterie. „Es gibt da so eine kleine Post-Brexit-Hysterie, als ob sich die Nato oder die transatlantische Allianz auflösen und jedes Land sich in seine Ecke zurückziehen würde. So ist das aber nicht“, sagte er dem Sender NPR.

Der Gipfel beschäftigte sich neben der Brexit-Krise auch mit dem Dauerthema Migration. Die EU will erreichen, dass weniger Migranten vor allem aus Afrika über das zentrale Mittelmeer nach Europa kommen. Dazu setzt sie auf stärkere Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern, die Migranten zurücknehmen oder aufhalten sollen. Bis Jahresende sollen erste Vereinbarungen abgeschlossen sein, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung.