„Die müssen sich nicht lieben“

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Kein europäischer Politiker wird in Frankreich so häufig als Beispiel für eine Politik zitiert, die im entscheidenden Augenblick umgesetzt wurde und heute Erfolge zeigt, wie der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Die deutsche „Agenda 2010“ begann mit einer Rede von Gerhard Schröder am 14. Mai 2003 im deutschen Bundestag. Sie wird in diesem Jahr 10 Jahre alt. Schröder trat beim Wirtschaftskongress „Economic Ideas“ im lothringischen Nancy auf und stand zuvor in einem Pressegespräch für Fragen zur Verfügung.

Altkanzler Schröder sieht Reformbedarf in Deutschland. (dapd)

Tageblatt.lu: Wie beurteilen sie die aktuelle Situation zwischen Deutschland und Frankreich nach der Publikation des Deutschland-kritischen Papiers der französischen Sozialisten?

Gerhard Schröder: Man darf das Papier nicht so ernst nehmen. Es ist ein Papier für einen Parteitag. Ich selber habe wenige Parteitagspapiere gelesen. Ich bin aber fest überzeugt, dass sich am deutsch-französischen Verhältnis nichts bewegt. Der französische Premierminister hat deutlich gemacht, dass das Regierungshandeln zählt und nicht ein Parteipapier.

Tageblatt.lu: Ist das Papier ärgerlich?

Gerhard Schröder: Ärger hat es zwischen Frankreich und Deutschland immer gegeben. Es geht auch nicht um die Frage, ob man sich liebt und immer Küsschen austauscht, sondern um eine Zusammenarbeit in der Sache. Europa erwartet, dass sie ihrer Verantwortung gerecht werden. Kritik am deutsch-französischen Motor von den anderen europäuischen Staaten hat es auch immer gegeben. Sie moserten, wenn es gut lief, weil es gut lief und sie moserten, wenn es schlecht lief, weil die Orientierung fehlte.

Es gibt Reformbedarf

Tageblatt.lu: Die „Agenda 2010“ wird zehn Jahre alt. Gibt es wieder Reformbedarf in Deutschland?

Gerhard Schröder: Ja natürlich, wir müssen unter anderem eine Gesundheitsreform angehen und wir müssen die Kinderbetreuung erheblich verbessern, damit unsere glänzend ausgebildeten jungen Frauen ohne Probleme ihren Platz in der Arbeitswelt finden, wo wir sie brauchen. Frauen müssen in Deutschland ihre Plätze in den Vorständen und Aufsichtsräten finden. Reformen sind etwas Dauerhaftes. Man darf nicht irgendwann eine Reform durchführen und sich dann statisch darauf ausruhen.

Tageblatt.lu: Wenn Deutschland seinen Reform-Motor nun wieder anwirft, wird der Abstand gegenüber anderen europäischen Ländern noch größer.

Gerhard Schröder: Es kann doch nicht sein, dass ein Erfolgreicher gestoppt und dadurch bestraft wird. Erfolgreich ist der, der die Zeichen der Zeit erkennt und entsprechend handelt. Den anderen sage ich: Schaut es Euch an und macht es genauso. Das ist wie im Fußball: Bayern München hat im Hinspiel gegen Barcelona 4:0 gewonnen. Soll man denen dann sagen, lasst es im Rückspiel etwas langsamer angehen? Das geht doch nicht. Sie haben es nicht getan, haben das Rückspiel 3:0 gewonnen. Das war richtig und so ist auch in der Politik.

Vorbild Deutschland?

Tageblatt.lu: Ist das deutsche Modell Vorbild?

Gerhard Schröder: Das deutsche Modell kann Vorbild sein. Aber letztlich muss jedes Land selber entscheiden, welchen Weg es geht. Die strukturellen Unterschiede sind zu groß. In Deutschland macht die Industrie 24 Prozent des Wirtschaftswachstums aus, in Frankreich sind es 12 Prozent. Man kann also nicht das deutsche Modell nehmen und es Frankreich überstülpen. Wichtig ist, dass die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt wird und es Arbeit für die Jugend gibt.

Tageblatt.lu: Kann man beides, Sparen und Wachstum erzielen?

Gerhard Schröder: Es gibt kein entweder Wachstum oder Austerität. Wir haben durch unsere Struktur-Reformen in Deutschland Mittel frei gemacht, die wir in das Wachstum investieren konnten. Wir haben weiter den Spitzensteuersatz von 53 auf 43 Prozent gesenkt. Das hat private Mittel für Investitionen frei gemacht. Man muss aber sehen, dass so etwas nicht sofort wirkt. Es gibt einen zeitlichen Abstand zwischen der Einführung der Reformen und ihrer Wirkung. Und es kann passieren, dass es dazwischen Wahlen gibt.

Tageblatt.lu: Hat Frankreich Ihrer Auffassung nach im ersten Regierungsjahr der neuen Regierung Fehler gemacht?

Gerhard Schröder: Ich glaube, dass der Spitzensteuersatz von 75 Prozent ein Fehler ist. Und ich meine, dass die Absenkung des Rentenalters auf 60 Jahre, auch wenn sie nur wenige betrifft, ein falsches Signal war.