Der Offenbarungseid

Der Offenbarungseid
(Reuters/Pool)

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Frankreichs Präsident François Hollande will die umstrittene Arbeitsmarktreform mit einem Verfassungskniff durchsetzen. Die Entscheidung könnte allerdings zu einem Boomerang werden.

Es ist ein parlamentarischer Joker für eine umstrittene Reform: Mit Artikel 49, Absatz 3, der französischen Verfassung will die Regierung von Staatschef François Hollande die Lockerung des Arbeitsrechts durch die Nationalversammlung drücken – und zwar ohne direkte Abstimmung.

Mit diesem Sonderverfahren können Regierungen in Frankreich ein Vorhaben auch ohne Mehrheit durch das Parlament boxen, indem sie ihr Schicksal an die Gesetzesvorlage knüpfen. Das Vorgehen ist eine Mischung aus Vertrauensfrage und Misstrauensabstimmung: Zunächst kündigt die Regierung an, für ein Gesetz auf Artikel 49.3 zurückzugreifen und stellt damit die Vertrauensfrage, die keine sofortige Abstimmung nach sich zieht.

Umstrittener Antrag

Die Opposition hat dann 24 Stunden Zeit, einen Misstrauensantrag zu stellen, ansonsten gilt das Gesetz automatisch als angenommen. Stimmt eine absolute Mehrheit der Abgeordneten für den Misstrauensantrag, muss die Regierung zurücktreten. Die Gesetzesvorlage ist dann erst einmal vom Tisch. Verfehlt der Antrag die absolute Mehrheit, ist die Gesetzesvorlage angenommen.

Dieses Verfahren kann von der ersten bis zur letzten Lesung in der Nationalversammlung angewandt werden. Auf diese Weise drückte Hollande bereits im vergangenen Jahr ein umstrittenes Reformgesetz von Wirtschaftsminister Emmanuel Macron durchs Parlament. Für eine Regierung ist der Rückgriff auf Artikel 49.3 wenig riskant: Denn auch wenn Abgeordnete der Regierungspartei wie im Fall der Arbeitsrechtsreform gegen ein Gesetz sind, so werden sie kaum zusammen mit der Opposition gegen die Regierung stimmen und so zu ihrem Sturz beitragen.

Ein Offenbarungseid

Noch nie war in Frankreichs Geschichte ein Misstrauensantrag in Folge von Artikel 49.3 erfolgreich. Allerdings kommt die Verwendung des Artikels einem Offenbarungseid gleich: Die Regierung muss eingestehen, dass sie für ein Gesetzesvorhaben keine eigene Mehrheit hat. Außerdem wird das Parlament gewissermaßen im Gesetzgebungsprozess umgangen.

Als Oppositionspolitiker kritisierte Hollande einst den Rückgriff auf Artikel 49.3 als undemokratisch, woran die heutige konservative Opposition ihn gerne erinnert. Die Regierung kann den Joker außerdem nur für den Haushalt und für ein weiteres Gesetzesprojekt pro parlamentarischem Jahr ziehen – dann aber mehrfach.

Hollande und sein Premier Manuel Valls könnten also für die Arbeitsrechtsreform bei allen Lesungen in der Nationalversammlung bis hin zu einer endgültigen Verabschiedung auf den Artikel zurückgreifen. Im Senat, in dem die konservativ-bürgerliche Opposition die Mehrheit hat, kann Artikel 49.3 nicht angewandt werden. Im Gesetzgebungsprozess fällt die letzte Entscheidung aber ohnehin in der Nationalversammlung.