Der mediale Januskopf

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Die Berichterstattung gleicht einem medialen Januskopf: Im gleichen Atemzug sprechen wir von der „Befreiung“ Mossuls und der „Niederschlagung“ Ost-Aleppos. Eine Analyse.

Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit westliche, aber auch russische und syrische Medien unausgewogene Berichte zum Kriegsgeschehen verbreiten.

Dies fällt besonders im Rahmen der Kriege in Syrien und dem Irak auf: Zwei eng miteinander verknüpfte Brandherde werden zum Beispiel trotz ähnlicher Problematiken hinsichtlich der zivilen Opfer anders dargestellt.

Mossul vs. Aleppo

Vergleichen wir etwa die Sachlage im irakischen Mossul und im syrischen Ost-Aleppo. In beiden Fällen werden überwiegend sunnitisch dominierte Städte mit einer enormen Wirtschaftskraft durch ihre jeweiligen Regierungstruppen angegriffen und durch ausländische Luftangriffe dabei unterstützt.

In beiden Ländern stehen der Regierung schiitische Milizen aus dem Iran zur Seite, die Sunniten trotz anders lautender Befehle niedermetzeln. In beiden Fällen spricht die jeweilige Regierung davon, gegen Terroristen vorzugehen. Der Angriff im Irak wird in unseren Medien als die „Befreiung“ Mossuls gefeiert, die Offensive in Ost-Aleppo hingegen als Blutbad an Zivilisten verurteilt.

Der blutige Stellvertreterkrieg

Die unterschiedliche Interpretation ist vordergründig nachvollziehbar. Mossul wird von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) besetzt, die als internationaler Feind Nummer eins gilt. In Syrien wird Machthaber und Diktator Baschar al-Assad hingegen vorgeworfen, nicht gegen Terroristen, sondern gegen seine eigene Bevölkerung zu kämpfen.

Beide Konflikte sind Teil eines weitläufigen Stellvertreterkriegs, in dem sich einerseits die USA, die Golfstaaten, Israel, Jordanien, die Türkei, Ägypten und andererseits Russland, der Iran, die Hisbollah im Libanon und Kämpfer aus Afghanistan, Pakistan und „Foreign Fighters“ gegenüberstehen.

Der IS, kleinster gemeinsamer Nenner

Einzig der Kampf gegen den IS wurde bislang trotz kaum real existierender Kooperation zwischen den USA und Russland als gemeinsamer Nenner definiert. Allerdings er möglichte er merkwürdige Allianzen.

So lassen sich hinsichtlich der Geschehnisse im Irak haarsträubende Widersprüche wie die von der irakischen Regierung geduldete Kooperation zwischen Amerikanern, Kurden und schiitischen Milizen erklären.

Den westlichen Staaten geht es im Irak nicht (mehr oder noch nicht) um „Regime Change“. Obschon die dortige Regierung stark vom Iran unterwandert wurde und von diesem wie eine Marionette gesteuert wird, kann sich die Anti-IS-Koalition mit der iranfreundlichen Regierung und ihren Verbündeten zeitweilig anfreunden.

Sachlage zum Verzweifeln

In Syrien ist die Sachlage komplexer und bringt unbeteiligte Beobachter fast zum Verzweifeln. Das Pro-Assad-Lager behauptet seit 2011, dass es noch nie etwas wie eine legitime Rebellion gegeben habe. Alle Oppositionellen werden als Dschihadisten oder Terroristen delegitimiert.

Die Gegner Assads wiederum glauben heute immer noch, dass in Ost-Aleppo etwa größtenteils nur „Rebellen“ agieren würden. Wozu das Aufeinanderprallen dieser beiden Ideologien führen kann, zeigt sich momentan. Die „Stabilität über alles“-Jünger säubern, was das Zeug hält, während die „Regime Changer“ mit allen Mitteln dagegenhalten und sogar Koalitionen mit Dschihadisten wie der Al-Nusra-Front eingehen.

Game Changer „Rote Linie“

Beide tragen somit dazu bei, dass die Situation komplett eskaliert ist. Da die USA aber beispielsweise aufgrund ihrer desaströsen Irak-Intervention unter George W. Bush keine Bodentruppen in Syrien haben – es gibt aber sehr wohl Spezialeinheiten, die ausbilden und an der Front präsent sind –, betrieb die Obama-Administration ein gefährliches Spiel.

Sie hat Russlands Präsidenten Wladimir Putin herausgefordert, hatte aber nach der Episode der „roten Linie“ jede militärische Glaubwürdigkeit verspielt. Doch auch hier zeigt sich, dass die damalige Drohkulisse eigentlich auf Falschinformationen basierte. Unterschiedliche Berichte belegen, dass Obama nicht in Syrien intervenierte, weil es sehr starke Zweifel an den „Rebellen“-Aussagen gab, das Assad-Regime sei für die Giftgasangriffe von Ghuta verantwortlich gewesen.

Systematische Ermordung von Journalisten

So viel steht fest: Seit diesem Moment veränderte sich nicht nur das Machtverhältnis im Syrien-Konflikt zugunsten Russlands, sondern auch die Berichterstattung und die Informationslage über die Region. Spätestens seit dem Erstarken des IS und der systematischen Ermordung und Entführung von Journalisten gibt es keine zuverlässigen Quellen mehr aus Syrien.

Besonders besorgniserregend ist, mit welcher Leichtigkeit sich zahlreiche Medien und Menschenrechtsorganisationen auf die unglaubwürdigsten Quellen verlassen. Lediglich Berichte, die auf Augenzeugenaussagen von Flüchtlingen oder Menschen vor Ort basieren, sind ernst zu nehmen. Das syrische Staatsfernsehen ist voller Propaganda, die russischen Nachrichtenseiten ebenfalls.

Keine unabhängige Überprüfung

Dafür ist die sogenannte „Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ (SOHR), auf die sich quasi alle westlichen Mainstream-Medien berufen, fragwürdig. Ihre Informationen können nicht unabhängig geprüft werden, gelangen jedoch regelmäßig in Umlauf. Das Portal wird von Großbritannien aus von einem Exil-Syrer betrieben.

Was in diesem Zusammenhang die Arbeit erheblich erschwert: Selbst für das Rote Kreuz, die Vereinten Nationen oder Kriegsreporter sind verschiedene Orte in Syrien nicht mehr zugänglich. Dennoch gibt sich die SOHR den Anstrich eines allumfassenden Netzwerks. In verschiedenen Fällen kann man die Informationen als brauchbar bezeichnen, mehr aber nicht.

Die Opfer sind Zivilisten

Hinzu kommen die sozialen Medien, die ebenfalls eine gefährliche Eigendynamik im Zusammenhang mit Syrien und dem Irak entwickelt haben. Der IS, andere Terrororganisationen, Rebellen, Regierungen – sie alle kämpfen per Twitter, Facebook und Co. um die Deutungshoheit im syrisch-irakischen Drama.

Die Opfer dieser medialen Schlacht sind meist Zivilisten. Jene, die sich niemandem anschließen wollen oder können und zwischen die Räder der unterschiedlichen Konfliktparteien geraten. Allerdings sollte ein kritischer Blick auf diese Propaganda nicht dazu dienen, die Weste von Tyrannen weißzuwaschen.

Auseinandersetzung mit Propaganda

Im Gegenteil. Gerade die Auseinandersetzung mit der Propaganda verdeutlicht, wie stark die Gräueltaten der unterschiedlichen Parteien dazu beigetragen haben, die Linie zwischen „gut“ und „böse“ zu verwischen. So sind etwa aus der von Assad gebetsmühlenartig delegitimierten Rebellion tatsächlich zum Teil terroristische Organisationen entstanden.

Allerdings handelt es sich hier um eine selbsterfüllende Prophezeiung. Erst als Assad die Rebellion niedermetzelte, witterten die Golfstaaten ihre Chance, den verhassten Alawiten zu stürzen. Sie fluteten Syrien mit Terrorjüngern und unterstützten die damals noch streckenweise legitime Rebellion mit Waffen. Doch genau jene Unterstützung machte aus Sicht des Assad-Regimes Terroristen aus ihnen.

Flüchten, kämpfen, sterben?

Viele der Kämpfer hatten keine Wahl und mussten sich irgendwann wohl oder übel – außer sie entschieden sich zur Flucht, für den Assad’schen Wehrdienst oder den Tod – einer der im Land wütenden Terrororganisationen anschließen. Worüber westliche Medien auch kaum berichteten, ist die Zwangsrekrutierung von Überläufern, die sich den syrischen Regierungstruppen anschließen mussten.

Nun könnte man einwenden, dass aufgrund der vorhin beschriebenen dünnen Informationslage nun mal keine verlässlichen Daten vorliegen und deshalb die Bewegungs- und Rekrutierungsmuster der „Rebellen“, „Terroristen“, „Zivilisten“ oder „Oppositionellen“ nicht unabhängig überprüfbar sind.

Kein Nachplappern

Doch gerade dann stellt sich die Frage, wieso jede Information, die sich gegen das Assad-Regime wendet, veröffentlicht wird, obwohl sie zum Teil nicht überprüfbar ist? Es ist unbestreitbar, dass Syriens Machthaber sich eines Tages vor der Justiz verantworten muss. Allerdings kann die Kritik an Assads Gräueltaten kein Freifahrtschein für unkritisches Nachplappern oder für unüberlegtes Säbelrasseln sein.

Genau dies geschieht aber immer wieder. Es ist nachvollziehbar, dass niemand als Pro-Assad-Journalist abgestempelt werden will. Die Angst ist groß, sich in diesen von Panik und Propaganda bestimmten Zeiten in die „Appeasement“-Ecke drängen zu lassen. Allerdings darf die Angst vor solchen Vorwürfen nicht die eigentliche journalistische Arbeit behindern. Und das tut sie, wie es aussieht, immer stärker.

Palmyra und Widersprüche

Alleine die widersprüchlichen Informationen zur Einnahme, Rückeroberung, Verlust (was war es denn nun?) von Palmyra verdeutlichen, dass viele Medien dabei sind, zu versagen. Sei dies durch ihren Regime-Change-Verlautbarungsjournalismus oder aber durch ihre falsch verstandene „Anti-Mainstream“-Position, die sie zu unkritischen Handlangern eines Massenmörders wie Assad macht.

Glaubwürdiger Journalismus muss gerade jetzt und angesichts des syrischen und irakischen Blutbads darauf achten, keine Doppelstandards zu verwenden und nicht auf irgendeine Form der Propaganda hereinzufallen. Es muss gerade jetzt dargelegt werden, was wir nicht wissen können. Stichwort: Transparenz.