Letzter Griff in den Sparstrumpf

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Während draußen die befürchteten Krawalle der zahlreichen Landwirte ausblieben, berieten die Landwirtschaftsminister der Europäischen Union gestern im Konferenzzentrum auf Kirchberg stundenlang über Auswege aus der Krise des Milchsektors. / Serge Kennerknecht

Das wenig überraschende Ergebnis: Es kommt Bewegung in das Dossier, 280 Millionen Euro werden zusätzlich dem Sektor zugeführt. Die überraschende Erkenntnis: Der freie Markt kann nun doch nicht alles regeln.

 Positive Signale nach außen hin senden, mit Blick auf eine Beruhigung der Lage, auch draußen vor der Tür, lautete die Devise gestern bei den Agrarministern auf Kirchberg.
So sah es auch der Luxemburger Landwirtschaftsminister Romain Schneider, der sich noch am Vormittag zusammen mit seiner belgischen Amtskollegin Sabine Laruelle dazu bereit erklärte, eine Delegation der protestierenden Landwirte zu empfangen. Verbunden mit der Zusage, dass die gleiche Delegation am Abend von der schwedischen Ratspräsidentschaft über die festgehaltenen Maßnahmen im Detail informiert werde, was denn auch am späten Nachmittag geschah.
Da war es doch schon hilfreich, dass fast alle Vorschläge, die gestern zur Festigung des Milchsektors beschlossen wurden, den Landwirten vor den Konferenztoren schon bekannt waren.Dass am letzten Freitag auch noch mitgeteilt wurde, dass die Kommission sich zur Zahlung von 280 zusätzlichen Millionen Euro durchgerungen hatte, nachdem die zuständige EU-Kommissarin Mariann Fischer Boel sich bis zuletzt dagegen gesträubt hatte, trug ein Übriges zur Entschärfung der Lage bei.
Auch wenn die Landwirte dies als nicht ausreichend empfinden und dies mit harschen Kommentaren auch zum Ausdruck brachten. Für Mariann Fischer Boel hingegen ist es viel Geld und vor allen Dingen „der letzte Griff in den Sparstrumpf“, wie sie den Agrarministern, laut dem Luxemburger Minister Romain Schneider, während der Sitzung erläuterte.

600.000 Eurofür Luxemburg

Gegenüber der Presse verwies die EU-Kommissarin darauf, dass ihr nunmehr nur knappe 300 Millionen Euro in ihrer Reserveschatulle für alle Fälle verbleien würden. Sie hofft auch, dass es keiner weiteren Mittel bedürfen wird, da sie erneut darauf verwies, dass sich der Milchmarkt stabilisiere und die Preise leicht anzögen.
Mit dieser Beurteilung sind die Agrarminister vorsichtiger. Sicher, so Minister Romain Schneider, es stimme, dass sich der Preis für einen Liter Milch auf durchschnittliche 25 Cent halte. Angesichts der Tatsache jedoch, dass die Preisunterschiede auf den nationalen Märkten nach wie vor sehr groß seien – von 15 resp. 16 Cent in den baltischen Staaten und der Slowakei, über 24 Cent in Luxemburg, 29 Cent in Frankreich und 54 Cent auf Zypern –, sei eine einheitliche Beurteilung der Lage auf der Grundlage durchschnittlicher Werte schwer.
Die 280 Millionen sollen in einen Milchfonds fließen und dem Haushalt 2010 angegliedert werden. Aus diesem Grunde bedarf es auch noch der Zustimmung der Europäischen Finanzminister, die heute auf Kirchberg zusammen sind, und die des Europäischen Parlaments, das im Rahmen einer Dringlichkeitsprozedur ebenfalls noch heute über die Mittel befinden soll.
Da für EU-Kommissarin Mariann Fischer Boel klar ist, dass diese Gelder nicht den Verkaufspreisen entsprechend auf die einzelnen Länder verteilt werden, sondern auf Grund der Produktionszahlen, wird wohl nach dem Milch-Quoten-Schlüssel aufgeteilt werden, was bedeutet, dass Luxemburg mit rund 600.000 Euro rechnen kann.
Wie diese Mittel dann anschließend genutzt werden, als direkte Zuwendung an die Landwirte oder zum Beispiel für den Ankauf von Quoten, die man dann zwei Jahre lang in der nationalen Reserve lang einfrieren will, steht für Landwirtschaftsminister Romain Schneider noch im Raum.
Als kurzfristige Hilfsmaßnahme haben die Minister weiter festgehalten, den Zeitraum für Interventionsankäufe von Butter und Magermilchpulver zur Stützung des Marktes bis zum 28. Februar nächsten Jahres zu verlängern, mit der Option, sie auch darüber hinaus ausdehnen zu können.
Auch eine Änderung der Beihilfsregeln ist vorgesehen, wie der EU-Ratspräsident und schwedische Agrarminister, Eskil Erlandsson, erläuterte. 15.000 statt der bisherigen geltenden 7.500 Euro können die Mitgliederstaaten bis Ende nächsten Jahres als Direktzuwendung je Betrieb zahlen, wobei eine teilweise vorgezogene Auszahlung von bis zu 70 Prozent vor dem 1. Januar 2010 möglich gemacht werden soll, wie es bereits letzte Woche hieß.
Die Minister einigten sich gestern auch darauf, den Milchsektor künftig Artikel 186 der gemeinsamen Marktordnung zu unterstellen. Dies gibt ihr die Möglichkeit, beim Auftauchen von Problemen in einem Sektor schnelle Maßnahmen zu deren Bekämpfung zu ergreifen. Mariann Fischer Boel bestätigte gestern, dass Landwirte auch unter Artikel 186 Milch weiterhin privat lagern könnten.

NeuenRahmen schaffen

Als zusätzliches stützendes Element wurde gestern auch die Möglichkeit geschaffen, auf nationaler Ebene Milchquoten aufzukaufen und sie in eine nationale Reserve einfließen zu lassen. Hauptunterschied: Die nationale Reserve soll in denn nächsten beiden Jahren nicht neben den Quoten der Landwirte als Teil der Gesamtquote für ein Land gelten.
Zudem können sie unter bestimmten Bedingungen für die Umstrukturierung des Milchsektors genutzt werden. In Sachen Quoten wurde gestern deren Abschaffung im Jahre 2015 von allen bekräftigt, wie zu hören war, was heißen würde, dass Österreich seinen bisherigen Widerstand gegen die Abschaffung aufgegeben hätte.
Dies jedoch bedeutet nun nicht, dass der Markt sich selber überlassen würde. Im Rat sei man sich darüber klar geworden, dass der Milchsektor nicht auf der Grundlage des freien Marktes funktionieren könne, so Minister Romain Schneider. Den Produzenten müssten Garantien und feste Preise geboten werden, wenigstens zum Teil.
Wie das vor sich gehen soll, damit soll sich die neu eingesetzte „Gruppe auf hoher Ebene“ beschäftigen. Dieses Gremium, dem neben Vertretern der Mitgliederstaaten auch diejenigen der verschiedenen Akteure auf dem Milchmarkt angehören, soll einen neuen Rahmen für Letzteren schaffen. Wie das aussehen soll, ist noch unklar. Ein mögliches Beispiel wäre jedoch das Schweizer Modell, das feste Preise für 85-90 Prozent der Produktion vorsieht, während die Restmenge auf den Weltmarkt fließen oder an der Börse gehandelt werden kann.
Einig war man sich auf Kirchberg auch, dem Positionspapier von ursprünglich 20, mit der gestrigen Zustimmung Zyperns nun 21 Ländern, Rechnung zu tragen. Hierin wird u.a. gefordert, den Produzenten bessere rechtliche Möglichkeiten gegenüber dem Handel zu bieten, Spekulations-Mechanismen vorzubeugen und eine bessere Vermarktung der Milchprodukte anzustreben.
Neben all diesen Maßnahmen hoffen die Agrarminister zudem darauf, dass eine Normalisierung des Marktes einsetzt, ein Markt, der hauptsächlich durch die Wirtschafts- und Finanzkrise, aber auch durch Produktionsanstiege außerhalb Europas und einem Rückgang der Nachfrage bei Milchprodukten, besonders beim Käse, eingebrochen ist.
Ob man aber die von den Landwirten gewünschten 40 Cent pro Liter Milch erreichen werde, oder sich der Preis bei realistischeren 30-35 Cent einpendeln werde, sei noch nicht abzusehen, so Minister Romain Schneider.