Gespräch mit Waleri Abissalowitsch Gergijew: „… und deshalb verstehen sie Russland nicht“

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Waleri Abissalowitsch Gergijew ist nicht nur ein begnadeter Orchester-Dirigent, sondern auch eine Persönlichkeit, die nicht vor klaren Aussagen zurückschreckt. / Interview: Marina Nickels-Ouchtchekova

Als Sohn nordossetischer Eltern geht ihm der Kaukasuskonflikt besonders nahe. Das war auch im Interview festzustellen, wo Gergijew weit ausholte, um seine Meinung zum Thema Krieg und Frieden zum Ausdruck zu bringen.

Waleri Abissalowitsch Gergijew 

Tageblatt: Nach dem Konzert in Tskhinvali, Südossetien wurde Ihnen vorgeworfen, Kreml-Propaganda zu betreiben …
Waleri Gergijew: „Vor einem Jahr, nach den Ereignissen in Südossetien, setzte ich meine geplante Konzerttournee mit Auftritten in mehreren europäischen Ländern und den USA fort. Überall wurde ich von Journalisten auf den Konflikt angesprochen. Manchmal war es sogar notwendig, die Journalistenströme einzudämmen. Die Fragen, die mir gestellt wurden, waren überraschend für mich, doch ich verstand schließlich, dass der Ossetien-Konflikt unverständlich für die Europäer war.
Wenn man im Fernseher russische Panzer sieht, denkt die ältere Generation gleich an Ungarn und Jugoslawien. Für die jüngere Generation hingegen ist es etwas noch nie Erlebtes. Es wurde gleich erklärt, dass die Russen in diese kleine, unabhängige Demokratie einmarschieren, dass man Georgien unterstützen müsse und den Angreifer bestrafen müsse.
Niemand zog in Betracht, dass in der Region, die von der georgischen Artillerie angegriffen wurde, eine friedfertige Zivilbevölkerung lebt: Frauen, Kinder, alte Leute. Und niemand konnte sich vorstellen, dass das Szenario eigentlich genau umgekehrt war: In Wahrheit hat das kleine Georgien Russland angegriffen.
Jeder geht davon aus, dass Georgien innerhalb seiner Grenzen tun und lassen kann, was es will.
Georgien hat ein wenig geschossen … 2.000 Menschen …
Historiker, Dokumentalisten und Journalisten werden irgendwann mal eine zuverlässige Zahl der Toten ermitteln können.
Man erlaube einen Gedankensprung nach Beslan: Es erschüttert mich, wenn ich Kinder leiden sehe. An jenem 1. September 2004 habe ich mich total hilflos gefühlt. Ein stechendes und schmerzhaftes Gefühl von Hilflosigkeit. Aber dort handelte es sich um schwarz maskierte Banditen. Nicht um reguläre Soldaten. In Ossetien war es anders. Es ist ja ungewöhnlich, dass Friedenskontingente gegenseitig aufeinander schießen.

August 2008 kann sich jederzeit wiederholen

Ich habe viele georgische Freunde und ich kann nicht einfach die georgische Bevölkerung mit dem identifizieren, was ihre Regierung tut. Wir alle wollen den Frieden im Kaukasus. Dort habe ich meine Jugend verbracht.
Es ist bitter, wenn man bedenkt, dass solche Ereignisse wie 2008 sich immer wieder wiederholen können, in fünf Jahren, zehn Jahren … Im Kaukasus haben wir schon viele Heißköpfe. Daher müssen gerade die Politiker besonders umsichtig sein. Wenn man bedenkt: Es ist eine sonnige Region, reich und schön, mit klaren Bergbächen und wenig Umweltbelastung. Eine Region, wo die Menschen leben und sich entfalten könnten.“

„T“: Aber wie kann eine Wiederholung verhindert werden und dauerhafter Frieden gesichert werden?
W.G.: „Es wird über viele Szenarien überlegt. Aber bisher hat leider nur ein einziges Szenario funktioniert. Das war als die Völker unter eiserner Hand zum friedlichen Zusammenleben verpflichtet waren. Jetzt wird nachgedacht, wie man dieses Resultat erneut erzielen kann.
Man wünscht sich, Wein anzupflanzen, Teeplantagen anzubauen, Schafe auf den Bergweiden aufzuziehen, umweltschonende Wasserkraftwerke zu bauen.
Aber so war es schon mal im Kaukasus. Aber wir haben ja die Gewohnheit, alles schwarz-weiß zu sehen. Und alles, was aus der sowjetischen Zeit stammt, ist ja notgedrungen schlecht …
Und doch ist es für mich schwierig, den Begriff einer Demokratie anzuwenden, für das, was jetzt im Kaukasus besteht. Es bedarf viel mehr Zeit, eine echte Demokratie aufzubauen.“

Auf den Ruinenvon Tskhinvali

„T“: Als Sie Ihr Konzert mit dem Marinskii-Orchester auf den Ruinen von Tskhinvali gaben, erhielten Sie in den Medien ein neues Image, nicht nur das des Orchesterchefs, sondern nun auch ein politisches.
W.G.: „Es hat keinen politischen Hintergrund. Mein Vater ist Ossete, meine Mutter ebenfalls. Ich werde niemals behaupten, dass die Osseten besser sind als die Georgier. Dazu müsste man schon verrückt sein. Es gibt ausreichend Böse auf beiden Seiten. Und noch einmal: Was sich da abgespielt hat, war vor 20 Jahren nicht möglich. Als die Sowjetunion zusammenbrach, traten nationalistische Leader auf, um die Nicht-Georgier aus Georgien zu verbannen. Zu dieser Zeit verlor Ossetien seinen Statut einer autonomen Republik.
Unser Konzert hat die Aufmerksamkeit der Welt auf eine Situation gelenkt, die nicht so war wie sie anfangs dank der Propaganda von CNN und BBC schien.
In der Tat haben die Aufnahmen der russischen Panzer die wahren Bilder des Leidens, des Bluts und des Todes von Kindern und alten Menschen, die unter den georgischen Artilleriegeschossen starben, verdrängt. Daher habe ich das Konzert in dieser vollständig zerstörten Stadt gemacht. Das bedauere ich nicht und ich werde mich niemals dafür entschuldigen.
Mit Leuten wie Präsident Saakashwilli an der Macht wird der Kaukasus immer wieder ins Verderben stürzen.“

„T“: Und das Wort zum Schluss?
W.G.: „Musiker haben ein Talent, um zuzuhören und zu verstehen. Die meisten Politiker und Wirtschaftsführer hören nicht zu. Ich weiß nicht weshalb. Sie hören vor allem nicht auf Russlands Stimme, und deshalb verstehen sie Russland auch nicht.“

In einer nächsten Ausgabe werden wir auf die neue Rolle von Waleri Abissalowitsch Gergijew als neuer Ehrenkonsul von Luxemburg in Sankt Petersburg eingehen. 

Zur Person
Waleri Abissalowitsch Gergijew ist Direktor des Sankt Petersburger Mariinski-Theaters und Chefdirigent des Londoner Sinfonieorchesters. Seit 1997 dirigiert er regelmäßig an der Metropolitan Opera in New York. Zu seinen vielen Aktivitäten gehören die Gründung verschiedener Festivals in Finnland, Rotterdam und St. Petersburg. Am 21. August 2008 sagte Gergijjew anlässlich eines Gedenkkonzertes für die Opfer der georgischen Raketenangriffe auf Tskhinvali: „Wir sind hier, damit die Welt die Wahrheit erfährt. Wir sind verpflichtet, jener zu gedenken, die durch die georgische Aggression eines tragischen Todes gestorben sind.“ Vergangene Woche wurde er zum Ehrenkonsul Luxemburgs in Sankt Petersburg ernannt.