„Die Zeit des Feierns ist vorüber“

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Roger Cayzelle (Foto), Vorsitzender des Wirtschafts- und Sozialrates der Region, ist nicht begeistert, wenn er Lothringen im Herbst 2012 betrachtet: „Die Zeit des Feierns, die wir in diesem Sommer hatten, ist vorbei“.

Aus der Nachbarregion fahren täglich 100.000 Lothringer ins Ausland, um zu arbeiten. Die Arbeitslosigkeit trifft 157.000 Menschen. Zwischen Januar und Mai 2012 hat es in Lothringen 4.900 neue Arbeitslose gegeben. Innerhalb eines Jahres stieg die Erwerbslosigkeit um gut sechs Prozent an. Unter zehn Prozent liegt sie nur noch in den Bezirken Thionville, Metz und Longwy – denen, die direkt von Luxemburg beeinflust werden – unter zehn Prozent. Immer mehr Erwerbslose stürzen in die Armut ab. Über 70.000 Lothringer bezihen Sozialhilfe. Und: Während die Atlantik-Stadt Nantes derzeit pro Monat 1.000 neue Mitbürger gewinnt, wandern die Menschen aus Lothringen ab.

Die Präsident des Wirtschafts- und Sozialrats Lothringens Roger Cayzelle (Foto: AFP)

„Wir haben in Lothringen“, so Präsident Cayzelle, „von 1990 bis 2000 gute zehn Jahre gehabt, in denen hier in der Region 70.000 Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Von 2000 bis 2010 haben wir 30.000 Arbeitsplätze verloren. Wir häufen seitdem die Arbeitslosigkeit an. Bei den Jugendlichen liegt sie mittlerweile bei 16 Prozent.“

Lothringens Trümpfe

Dabei hat Lothringen durchaus seine Trümpfe. Die Universität hat sich mit Metz und Nancy darauf geeinigt, als lothringische Universität aufzutreten und hat nach vielen Schwierigkeiten nun auch einen für den gesamten Bereich zuständigen Präsidenten. Allerdings wird es dauern, bis sie auch mit einem klar gegliederten Bildungsangebot auftreten kann und sich nach außen darstellen wird. Cayzelle fordert darüber hinaus dort, wo Lothringen sich noch gut darstellt, Spitzenleistungen. „Wir haben nicht das Recht auf Mittelmäßigkeit!“

Der Vizepräsident des Wirtschafts- und Sozialrates, Maurice Grünwald, verweist darauf, dass jeder vierte Ingenieur in Frankreich in Lothringen ausgebildet wird. Allerdings: Sie bleiben nicht in der Region. Der Grund: Woanders wird besser bezahlt und die Abzüge sind geringer. „Dabei“, so Grünwald, „bieten wir in Lothringen Tausende hoch qualifizierter Arbeitsplätze an, die wir nicht besetzen können“.

Roger Cayzelle wiederum weist darauf hin, dass wichtige Infrastrukturen derzeit blockiert sind. Man wisse nicht, was mit dem Kanal Saône-Mosel geschehe, den man als Verbindung zum Mittelmeer brauche. Die Autobahn-Umgehung von Thionville sei notwendig aber ungewiss. Die Autobahn-Erweiterung zwischen Thionville und Luxemburg stehe in den Sternen, ganz abgesehen von der Frage, was denn mit dem lothringischen Regionalflughafen geschehen solle, dessen Entwicklung stagniere.

Die Bedeutung der Nachbarregionen

Die Entwcklung Lothringens hänge von den Nachbarregionen ab, analysiert Cayzelle. Er begrüßt, dass der neue Präfekt, der die Wahlkampfkampagne des neuen französischen Staatspräsidenten François Hollande administrativ geleitet hatte, sehr schnell erkannt habe, wie wichtig das Erlernen der deutschen Sprache in Lothringen sei und darauf Einfluss nehmen wolle. „In Lothringen lernen fünf Prozent der Schüler drei Stunden Deutsch pro Woche in der Schule. Und dass, obwohl Deutschland der wichtigste Handelspartner ist. Zum Vergleich: Im Elsass sind es 95 Prozent der Schüler“, sagt Cayzelle.

In seinen Augen müsse sich Lothringen auf drei wesentliche Bereiche konzentrieren. Das sei der große Bereich Holz, der insbesondere im Süden Lothringens wichtig sei. Dann handele es sich um Wasserverwaltung. Man könne heute schon feststellen, dass es in Lothringen zu viel Wasser gebe, insbesondere auch Grubenwasser. Im Süden Frankreichs zeichne sich dagegen heute schon eine Wassernot ab. Wasserwirtschaft sei ein Wirtschaftszweig der Zukunft. Und dann müsse man Lothringen gerade wegen seiner Abhängigkeit von den Nachbarregionen stärker in die Großregion Saar-Lor-Lux einbringen. Lothringen müsse sich dazu organisieren und mit klaren Strukturen nach draueßen auftreten.

Es fehlt an Persönlichkeiten

Am Rande Treffens des Wirtschafts- und Sozialrates mit Journalisten in Metz war allerdings auch zu hören, dass es Lothringen an Persönlichkeiten mangelt. Es gäbe die Person nicht, die für Lothringen stünde. Derzeit würde noch Patrick Weiten, der Präsident des Generalrates in Metz durch seine Dauerkontakte nach Luxemburg und in das Saarland am ehesten mit Lothringen gleichgesetzt.

Der Wirtschafts- und Sozialrat lässt keinen Zweifel daran, dass er die Stahlindustrie in Lothringen als moderne Industrie stützt und nicht gewillt ist, diese Industrie in Hayange und Florange aufzugeben. Zweifel an einer anderen Stütze der lothringischen Industrie will er nicht aufkommen lassen. Die Automobil-Zuliefer-Industrie sei eine Stärke Lothringens. Auch die Tatsache, dass der Automobilmarkt schrumpfe und die Restrukturierung bei Peugeot und Citroën in Ennery in der größten Motorenfabrik Europas bereits zum Abbau von 42 Arbeitsplätzen geführt hat, wollen die Wirtschafts- und Sozialexperten nicht als Warnzeichen verstehen.
(Helmut Wyrwich / Tageblatt.lu)