Der geliebte Guru und Heilpraktiker Dr. Dragan Dabic

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Jahrelang galt Radovan Karadzic als unauffindbar. Dabei führte der flüchtige Kriegsverbrecher als alternativer Heilguru ein erstaunlich öffentliches Leben. Es mehren sich die Hinweise, dass „Dr. Dabic“ den Schutz des Geheimdienstes genoss. Die Zeitenwende könnte auch seinen alten Spezi Ratko Mladic hinter Gitter bringen./ Von unserem Korrespondenten Thomas Roser, Belgrad

Der spät gefasste Kriegsverbrecher verblüfft als haariger Verwandlungskünstler eine ganze Nation. Jahrelang galt der bosnische Serbenführer Radovan Karadzic als spurlos abgetaucht. „Unauffindbar“, „Spur verloren“, konstatierten in- und ausländische Geheimdienste unisono. Doch nach der Verhaftung des mutmaßlichen Massenmörders fördert Serbiens Presse stets neue Unglaublichkeiten zu Tage.
Mit eindrucksvollem Rauschebart suchte und fand der vermeintliche Heilpraktiker als Doktor Dragan Dabic bewusst das Licht der Öffentlichkeit. Selbst vor laufenden TV-Kameras dozierte der von Patienten als „charismatisch“ und „gütig“ beschriebene Alternativ-Mediziner über die bio-energetische Kraft des Handauflegens.

Ein eleganterBoheme

Leise Zweifel hatten Goran Kojic, Chefredakteur der Zeitschrift „Gesundes Leben“, bei seinem neuen Kolumnisten allenfalls bei dessen Qualifikation beschlichen. Bei der Nachfrage nach seinem Diplom habe Doktor Dragan behauptet, dass seine in den USA lebende Ex-Frau dieses aus Rache einbehalten habe: „Aber es kam mir nie in den Sinn, dass dieser Mann Karadzic sein könnte.“
Als „kulturell“ und „selbstbewusst“ lernte die Heilpraktikerin Maja Delic den vermeintlichen Kollegen auf einer Podiums-Diskussion in Smederovo kennen: „Er hatte keinen bosnischen Akzent, wirkte keineswegs wie ein Mensch, den irgendwelche Probleme plagen.“ Doktor Dragan habe durch Handauflegen geheilt, berichtet eine Patientin: „Ich fühlte mich danach besser. Aber vielleicht war es Selbstsuggestion: Ich weiß nicht mehr, was ich eigentlich noch glauben soll.“
Zumindest ein Jahr wohnte der einstige Kriegsherr in einer bescheidenen Zwei-Zimmer-Mietwohnung in den Plattenbausiedlungen der Gagarin-Straße in Novi Beograd. In der Stadt bewegte er sich mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln. Seinen Nachbarn präsentierte sich Doktor Dabic als eleganter Boheme. Meist trug er einen weißen Hut und schwarze Kleidung aus Naturfasern. Seine lange weiße Mähne band er sich oft zu einem Zopf, den er merkwürdig gewunden mit einer Spange auf seinem Scheitel befestigte. Regelmäßig war er in der Öffentlichkeit Hand in Hand mit einer anonymen etwa 50-jährigen, dunkelhaarigen Frau zu sehen: Den Redakteuren von „Gesundes Leben“ stellte er sie als „Mila“ – und Liebe seines Lebens vor.
Seit über einem Jahr nippte der elegante Herr regelmäßig in der kleinen Kneipe „Lude Kuce – Irrenhaus“ an einem Rakija. Volksmusik habe er gerne gehört, er sei einsilbig, aber freundlich gewesen, erzählen die Gäste. Einmal habe er selbst die Gusla von der Wand genommen, um auf ihr ein Volkslied zu zupfen, erzählt Wirt Misko Kovijanic: Von seinem Stammplatz habe Doktor Dabic die im Wirtshaus aufgehängten Fotos von Ratko Mladic und Radovan Karadzic genau im Blick gehabt.

Auslieferung am Wochenende vermutet

Im bosnischen Pale verweigern die Ehefrau und Tochter von Karadzic mittlerweile jede Stellungnahme. „Radovan hat ein paar Kilos verloren, sieht prächtig aus, ist gesund – und voller Optimismus“, erzählt hingegen wesentlich auskunftsfreudiger sein Bruder Luka, der am Dienstagabend gemeinsam mit 200 randalierenden Nationalisten in der Belgrader Innenstadt für dessen Freilassung demonstrierte. Sein Anwalt berichtet, dass Karadzic sich in der Haft inzwischen Druiden-Bart und -Mähne habe stutzen lassen: „Er sieht aus wie früher – nur etwas älter.“
Vermutlich am Wochenende wird der des Völkermords angeklagte Karadzic in das Gefängnis des UN-Kriegsverbrecher-Tribunals im niederländischen Scheveningen überstellt. Gegen die geplante Auslieferung hat sein Anwalt bereits Widerspruch eingelegt. Große Erfolgshoffnungen hegt er aber offenbar selbst nicht: Vor dem UN-Tribunal werde sich sein Mandant selbst verteidigen, kündigte er an.
In Serbien hegt angesichts des offenbar völlig sorglosen Doppellebens von Karadzic derweil fast niemand mehr Zweifel, dass der frühere Präsident der Republika Srpska bislang den Schutz der Sicherheitsdienste und hoher politischer Kreise genoss.
Die Polizei habe nichts mit der Verhaftung zu tun, beteuert der neue Innenminister Ivica Dacic, der als Chef der einst von Ex-Autokrat Slobodan Milosevic gegründeten Sozialisten (SPS) die Auslieferung von Kriegsverbrechern stets abgelehnt hatte. „Der Geheimdienst hat Karadzic geschützt, der Geheimdienst hat ihn jetzt übergeben“, zitierte ihn gestern eine Morgenzeitung – ein Zitat, das ein Regierungssprecher später dementierte.
Bereits 1998 habe Karadzic vom serbischen Geheimdienst einen Pass auf den Namen Dabic erhalten, sei mit ihm selbst zwei Mal nach Russland gereist, berichtete am Mittwoch die mit den Sicherheitsdiensten als eng vertraut geltende Tageszeitung „Press“. Von offiziellen Stellen war am Mittwoch nur zu erfahren, dass der falsche Pass offenbar in der Kleinstadt Ruma ausgestellt worden war.
Für eine frühere Verhaftung von Karadzic habe bis zum Regierungswechsel vor wenigen Wochen „klar der politische Wille gefehlt“, konstatiert die Zeitung „Blic“: „Nun hat sich etwas verändert.“ Eine baldige Verhaftung des in den letzten Jahren mehrmals in Belgrad lokalisierten flüchtigen Kriegsverbrechers Ratko Mladic hält das Blatt denn auch keineswegs mehr für ausgeschlossen: „Uns kann nichts mehr überraschen.“