Das Schlimmste waren die Ameisen

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"Ich kann es nicht erwarten, diesem Tier in die Augen zu sehen", sagt Mevludin Oric, der gegen Ratko Mladic aussagen wird. Die Geschichte des 42-Jährigen ist grauenhaft.

Das Schlimmste waren die Ameisen. Sie krabbelten über seine Arme, seine Beine, sein Gesicht und in seinen Mund, Stunde um Stunde, während Mevludin Oric verzweifelt versuchte, sich tot zu stellen. Neun Stunden lang lag er in einem Haufen langsam erstarrender Leichen auf einem der Schlachtfelder von Srebrenica, auf denen die Truppen des damaligen militärischen Führers der bosnischen Serben, Ratko Mladic, im Juli 1995 8.000 muslimische Männer und Jungen töteten. Oric entkam im Dunkel der Nacht, nachdem die Soldaten davon überzeugt waren, dass niemand mehr lebte.

Am Donnerstag kehrte Oric zum ersten Mal an den Ort des Schreckens zurück, einer idyllische Wiese inmitten eines Waldes. Er wurde von Journalisten der Nachrichtenagentur AP begleitet, denen er seine Erinnerungen und seine Gedanken über Mladics Festnahme eine Woche zuvor schilderte. Oric brachte auch seine älteste Tochter mit, die 17-jährige Merima, damit sie weiß, was an diesem Ort geschehen ist. Und das will ihr Vater auch der ganzen Welt mitteilen: Oric ist entschlossen, vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gegen Mladic auszusagen.

„Ich kann es nicht erwarten, diesem Tier in die Augen zu sehen“, sagte der 42-Jährige und zum ersten Mal geht ein Leuchten über sein Gesicht, nachdem er zuvor den ganzen Vormittag gegen seine Tränen ankämpfen musste. Der ehemalige bosnische Soldat ist einer von nur vier bekannten Überlebenden des Massakers von Srebrenica. Alle konnten ihr Leben retten, indem sie sich tot stellten, während serbische Soldaten jeden mit einem Kopfschuss töteten, der noch ein Lebenszeichen von sich gab.

„Sie werden uns alle töten“

Trotz der Ameisenbisse gelang es Oric, sich nicht zu regen, wie er jetzt der AP schilderte. Neben ihm flehte ein alter Mann um sein Leben: „Kinder, wir haben nichts getan. Tut uns das nicht an.“ Er wurde ebenfalls erschossen. Oric hatte zusammen mit seinem Cousin Hars vor dem Erschiessungskommando gestanden. Hars nahm seine Hand und sagte: „Sie werden uns alle töten“. Als die Schüsse fielen, warf sich Oric auf den Boden, und sein sterbender Cousin fiel über ihn.

Während er dort lag, sah Oric einen serbischen Soldaten auf sich zukommen. Dieser bliebt kurz stehen, um einen Mann in den Kopf zu schiessen, und ging dann weiter auf Oric zu. Jetzt bin ich dran, dachte Oric. „Ich habe meine Augen geschlossen und an Dich (Merima) und deine Mutter gedacht. Ein paar Sekunden vor dem erwarteten Schuss habe ich mir überlegt, wie es im Himmel oder in der Hölle sein würde.“ Der Schuss fiel nicht. Dennoch würde es noch Stunden dauern, bis Oric wieder ein freier Mann war.

Bei der Besichtigung der Wiese am Donnerstag machte er die Stelle aus, an der er 16 Jahre zuvor lag. „Hier war die Grube. Das hier ist mit Blut getränkt. Hier hätte ich liegen sollen, aber das Schicksal…“ sagte der Bauarbeiter und Vater dreier Töchter, bevor seine Stimme abbricht. „Ich möchte weinen, aber etwas in meiner Kehle erlaubt mir nicht zu weinen.“

Viertägige Flucht bis zur Front

Kurz vor Mitternacht hörten damals die Schüsse auf, und die serbischen Truppen verliessen den Ort des Massakers. Orics Arme und Beine waren taub, aber es gelang ihm, den Leichnam seines Cousins abzuschütteln und aufzustehen. Im Mondlicht sah er die Leichenberge – und einen Schatten, der sich auf ihn zubewegte. „Es war der Schatten eines Mannes, der aussah wie ein Gespenst“, erinnerte er sich. „Zuerst dachte ich, es wäre ein Soldat, der zurückgeblieben war, um Wache zu halten.“

Doch es war Hurem Suljic, ein bosnisch-muslimischer Maurer, der ebenfalls überlebt hatte. Suljic kam näher und fragte: „Bist du verletzt?“ Oric verneinte. Um sich herum sahen sie viele, die im Sterben lagen. Ein Mann hatte eine klaffende Bauchwunde, durch die seine Nieren zu sehen waren. „Könnt ihr mir eine Jacke geben?“, bat er Oric und Suljic. „Mir ist kalt.“ Orica zog einem Toten die Jacke aus und gab sie dem Sterbenden.

Ein anderer Verletzter robbte auf den Armen und zog seine zerfetzten Beine hinter sich her. „Lauf, Bruder“, sagte er zu Oric. „Kümmere dich nicht um mich. Ich werde es nicht schaffen.“

Oric und Suljic stiegen über zahllose Leichen hinweg und flohen in den Wald. Weil Suljic ein taubes Bein hatte, war es keine leichte Flucht. Immer wieder musste Oric den älteren Mann auf seinem Rücken tragen. Vier Tage später überquerten sie schließlich ein Minenfeld an der Front und wurden von bosnischen Soldaten aufgenommen.

Mit hunderten anderen in Schulturnhalle festgehalten

Vor der Fahrt nach Srebrenica zeigte Oric seiner Tochter die Schulturnhalle, in der er vor dem Massaker zusammen mit hunderten anderen bosnischen Gefangene festgehalten worden war. Mladic sei an diesem Tag auch anwesend gewesen, erinnerte er sich. Er habe die Gefangenen inspiziert, kurz bevor sie mit Lastwagen nach Srebrenica gebracht worden seien. Suljic hat eine ähnliche Aussage gemacht.

In der Turnhalle wurde den Muslimen gesagt, sie seien Teil eines Gefangenenaustauschs. Doch die Männer bezweifelten das, da um sie herum schon überall Schüsse fielen. Während Oric jetzt mit seiner Tochter die Halle besuchte, waren aus den umliegenden Häusern des überwiegend von Serben bewohnten Viertels die Rufe zu hören: „Lasst Mladic gehen!“