Belgien: 100 Tage ohne Regierung

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100 Tage nach den belgischen Parlamentswahlen sind die sieben Parteien, die erst über eine Staatsreform und anschließend über eine Regierungsbildung verhandeln sollen, kaum vorangekommen. Die beiden Sieger der Wahl vom 13. Juni, die flämischen Nationalisten und Separatisten unter Bart de Wever (N-VA) sowie die frankofonen Sozialisten unter Elio di Rupo (PS), wollen dennoch weiter über...

Von unserem Korrespondenten Joseph Lehnen

Eine allseits befürchtete weitere Krise konnte am vergangenen Wochenende abgewendet werden. Der Kreis der Gesprächspartner wird immer größer, die Themen immer technischer, weshalb auch immer mehr Experten hinzugezogen werden. Damit wurde eine Dynamik ins Leben gerufen, die ein definitives Scheitern fast unmöglich macht. Zu viele Brücken müssten abgebrochen, zu viel Erde im Land verbrannt werden.

Seit Anfang Juli palavern – verhandelt wird offiziell ja nicht – die flämischen und frankofonen Sozialisten (SP.A und PS), Christdemokraten und Humanisten (CD&V und CDH), die Grünen (Groen! und Ecolo) sowie die flämischen Separatisten (N-VA). Bisher waren es immer die flämischen Nationalisten, in Flandern spricht man von Nationaldemokraten, die einen Entschluss, endlich mit Verhandlungen zu beginnen, vereitelt haben.

Zu hoch sind deren Erwartungen geschraubt, auch wenn sie inzwischen eingesehen haben dürften, dass aus einem autonomen Flandern in der laufenden Legislaturperiode nichts wird. Die N-VA fordert von Anfang an Garantien für die Ausführung eines neuen Finanzierungsgesetzes, mit dem die künftigen „Bundesstaaten“ eine eigene finanzielle Verantwortung tragen sollen. Die PS weigert sich, dieser Einzelforderung nachzukommen, weil alles bisher Erreichte ein Paket bildet, das nicht aufgeschnürt werden soll.

Die fünf anderen Parteien am Tisch sind damit einverstanden, dass man nicht nach Belieben einen Teil daraus herausnehmen und getrennt behandeln kann: Staatsreform, Finanzierungsgesetz, Neufinanzierung der Region Brüssel-Hauptstadt sowie die Spaltung des Gerichts und Wahlbezirks Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV) bilden dieses Gesamtpaket.

Seit Urzeiten wenden gewiefte belgische Politiker die Salami-Taktik und die Prozedur des „encommissionnement“ an, wenn es brenzlig wird. Im vorliegenden Fall mussten beide Verfahren angewandt werden. N-VA-Präsident Bart de Wever und PS-Vorsitzender Elio di Rupo einigten sich zusammen mit den beiden königlichen Vermittlern André Flahaut (PS, Kammerpräsident) und Danny Pieters (N-VA, Senatsvorsitzender) auf die Schaffung einer speziellen Allparteien-Kommission zur Revision des Finanzierungsgesetzes.

Der Arbeitsgruppe bleibt eine Woche Zeit

Eine Woche Zeit bekam die Arbeitsgruppe, die am Dienstag die Arbeit bereits aufnahm. Pieters und Flahaut werden ihrerseits bis dahin informelle Kontakte zu den verschiedenen Parteien knüpfen, um deren Standpunkte zu den anderen Aspekten der Staatsreform einander anzunähern. In der kommenden Woche werden die Ergebnisse dann ausgewertet.

Das heißt allerdings noch lange nicht, dass dann mit der eigentlichen Regierungsbildung begonnen werden kann, doch geben De Wever und Di Rupo den Bemühungen zur Bildung einer neuen belgischen Regierung eine neue Chance. In der kommenden Woche wollen vor allem die flämischen Nationalisten prüfen, ob man in die „richtige Richtung“ geht.

Das heißt auf Nationalistisch, ob den Teilstaaten ausreichend Autonomie zugestanden wird, sodass sie eigene Steuern erheben können. Fällt die Prüfung zufriedenstellend aus, könnte Di Rupo mit einer Regierungsbildung beginnen.

Für die konservative Tageszeitung La Libre Belgique bilden die Vorschläge Di Rupos eine ausreichende Grundlage für ein Regierungsabkommen. Und nur aus ausgewogenen Verhandlungen könne sich Belgien institutionell weiterentwickeln. Eine einseitige Unabhängigkeitserklärung oder die Eingliederung in einen anderen Staat sieht die katholische Zeitung als unmöglich an.

Das ebenfalls katholische Nieuwsblad meinte am Dienstag, dass man eine neue Regierung nicht vor Anfang Dezember erwarten sollte. So sah es auch eine weitere flämische christliche Zeitung, Het Belang van Limburg: „Und doch können die Verhandlungen noch einmal hundert Tage dauern, wenn sie nur zu einem Abkommen führen, mit dem das Land zehn oder fünfzehn Jahre weiter bestehen kann. Wir zählen auf Bart de Wever.“

Dagegen gab es für den wallonischen Taktiker Di Rupo am Dienstag außergewöhnliches Lob von der flämisch-liberalen Tageszeitung Het Laatste Nieuws: „Der Taktiker De Wever hat in dem anderen Taktiker Di Rupo seinen Meister gefunden“. Di Rupo habe die N-VA zunächst mit harten Argumenten, dann mit Drohungen, aber auch mit verführerischen Anregungen bearbeitet.

Autonomes Flandern weiterhin das Ziel

Gleichzeitig habe er das Vertrauen aller anderen Parteien erweckt. Geschickt habe Di Rupo Vorschläge für Gespräche über „alle“ Aspekte der Staatsreform und des Haushalts auf den Tisch gelegt und somit sture Ablehnung als Option ausgeschaltet. Doch nichts deutet darauf hin, dass die Nationalisten von ihrer bisherigen Taktik abweichen und immer wieder neue Forderungen stellen werden.

Ihre Strategie zielt auf ein autonomes Flandern. Diesem Ziel ist auch die so genannte Stratego-Gruppe der Partei verschrieben. Sie besteht aus Hardlinern, die den Gegner immer wieder in die Ecke treiben sollen. Niemand weiß, welches der nächste Zug des Nationalisten De Wever sein wird. Er muss nur aufpassen, dass er nicht über das Ziel hinausschießt. Unersetzlich ist auch ein De Wever nicht…