/ Als der Tod nach Tohoku kam
Akiko Iwasaki wiegt ihr friedlich schlummerndes Enkelbaby im Arm. Draußen reparieren Arbeiter die Außenfassade ihres Gasthauses „Houraikan“. Ein kalter Winterhauch weht von der nahen Bucht herüber. Die fast spiegelglatte Meeresoberfläche glänzt sanft in der Morgensonne. „Als ich Kind war, erzählten mir meine Großeltern und mein Urgroßvater häufig davon, wie früher immer wieder Tsunamis unsere Gegend verwüsteten“, erzählt die 55-Jährige.
Vom Schnee bedeckt sind die Trümmer zerstörter Häuser in Kamaishi zu sehen. Der Ort Kamaishi in der Provinz Iwate war vom Tsunami schwer betroffen. (Bild: dpa)
„Wir lebten immer im Bewusstsein, dass es eines Tages bestimmt wieder passiert.“ Dabei sei das Gasthaus ihrer Familie, das sie vor einigen Jahren erdbebensicher neu errichten ließ, bislang immer verschont geblieben. Obwohl es nur wenige Meter vom Meer entfernt auf einer Anhöhe steht, kamen Tsunamis nie bis hier herauf. Bis zum 11. März 2011. „Ich wusste gleich, dass diesmal etwas anders war“, erinnert sich Iwasaki.
Die Flucht
Die Uhr steht auf 14.46 Uhr. Ein Erdbeben der Stärke 9,0 lässt das Haus gewaltig erzittern. Immer heftiger werden die Schläge. Obwohl sie sicher ist, dass ihr Gebäude standhalten würde, folgt Iwasaki ihrem Instinkt. Statt ihre Gäste und Angestellte auf den Parkplatz vor ihrem Haus zu führen, der ein ausgewiesener Sammelplatz für alle Bewohner der Nachbarschaft in ihrer Heimatstadt Kamaishi im Falle von Katastrophen ist, entscheidet sich die Japanerin dagegen, dort zu bleiben. „Ich spürte, heute müssen wir in die Berge“. Sofort trommelt sie mit ihren Mitarbeiterinnen die Gäste zusammen. Manche müssen erst noch aus dem Bad geholt werden. „Wir hatten noch 30 Minuten Zeit.“
Eilig bringen Iwasaki und ihre Mitarbeiterinnen die Gäste hinter das Haus zu einer Treppe, die einen bewaldeten Hügel hinaufführt. Die Treppe hatte sie in weiser Voraussicht beim Neubau ihres Gasthauses in Gedanken an die vielen Erzählungen ihrer Großeltern von den Tsunamis früherer Zeiten als Fluchtweg errichten lassen. Eine Entscheidung, die vielen Menschen an diesem Tag das Leben rettet.
Das Tsunami
Dann ist es soweit. Mit mörderischer Gewalt trifft eine Flutwelle von bis zu 19 Metern Höhe auf die Küste des in Wohlstand lebenden Inselreiches und walzt alles nieder: Häuser, Häfen, Schulen, Friedhöfe. Dörfer, Städte und riesige Anbauflächen versinken in den Wassermassen. Familien mit kleinen Kindern rennen verzweifelt um ihr Leben. „Das Meer war pechrabenschwarz. Überall schlug das Wasser heftig in alle Winkel unserer Bucht. Es sah aus wie die Hölle, in der ein wilder Drache trobt“, so Iwasaki. Was sie zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnt, ist, dass sich in der nahen Provinz Fukushima im dortigen AKW Fukushima Daiichi bereits die nächste Katastrophe abspielt.
Nachdem Iwasaki ihre Gäste auf dem Hügel in Sicherheit gebracht hat, läuft sie mit einer Mitarbeiterin wieder hinunter, als sie unten noch Nachbarn sieht. Doch die Flut ist schneller. Plötzlich gerät sie unter ein Boot und kann in der Luftblase darunter wieder atmen. „Ohne dieses Boot wäre ich gestorben“, sagt Iwasaki. Über ihr wirbeln Autos und Busse durchs Wasser. Dann schleudert sie eine Welle wieder nach oben. Die Frauen können sich auf einen Busreifen und dann an Land ziehen. Drei ihrer Kolleginnen aber, die mit Iwasaki so vielen das Leben retteten, gehen noch einmal den Hügel herunter, um zu ihren Familien zurückzukehren – und finden dabei ihren eigenen Tod.
Die Opfer
Iwasaki bedauert zutiefst, dass sie ihre Kolleginnen hat gehen lassen. 15.850 Menschen in der nordöstlichen Region Tohoku kommen in Folge des Erdbebens und Tsunamis ums Leben. Noch heute, ein Jahr später, gelten fast 3.300 Menschen weiter als vermisst. Viele wird das Meer wohl nie mehr wieder hergeben. Über eine Million Häuser wurden ganz oder teils zerstört. Zigtausende haben jedoch nicht nur ihre Häuser verloren, sondern auch ihren Arbeitsplatz und damit ihre Lebensgrundlage. Noch immer leben mehr als 320.000 Menschen in Behelfsunterkünften.
Einer davon ist Teiichi Sekizawa. Der 55-Jährige arbeitete bis genau einen Tag vor der Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi, dann war sein Auftrag beendet. „Ich hatte Glück gehabt“, erzählt der stämmige Japaner in seiner engen Behausung. Seit seinem 30. Lebensjahr verdingte er sich in Kernkraftwerken im ganzen Land, ein Wanderjob, der ihm gutes Geld einbrachte.
Die Atomkraftwerke
Sein Haus liegt keine zehn Kilometer von den Unglücksreaktoren in Fukushima entfernt. Heute ist die Gegend noch immer hochgradig verstrahlt. „Ich weiß, dass ich da nicht mehr hin zurück kann“, sagt der ledige Japaner, der jetzt in einer Siedlung aus 180 containerähnlichen Notunterkünften auf einem Parkplatzgelände der Provinzhauptstadt Fukushima haust.
In Atomkraftwerken, die er wie die meisten Japaner immer für sicher hielt, will er nicht mehr arbeiten. Auch glaube er nicht an die Behauptung der Regierung, dass die Reaktoren jetzt unter Kontrolle seien. „Wir müssen künftig neue Energiequellen benutzen“, sagt Sekizawa. Bis dahin aber sollte man neuere Meiler weiter laufen lassen, findet er, ganz ohne Atomstrom gehe es so schnell ja nicht. Durch die Stahlträger und dünnen Wände seines Wohncontainers dringt die eisige Winterluft herein. Dennoch macht der Atomarbeiter die Klimaanlage nicht an – um Strom zu sparen. Er muss zwar für die Behelfsunterkunft keine Miete zahlen, dafür aber alle anderen Kosten.
Die Notbehausungen
Es sei aber immerhin besser als in den Notlagern während der ersten Monate. „Im Vergleich zu der Sporthalle damals ist es wunderbar. Da war es noch kälter und wir hatten nur Instant-Nudeln, Reisbällchen und Brot bekommen“, erinnert er sich. Dennoch sehnt sich der grauhaarige Mann nach einer vernünftigen Wohnung. „Wir wollen keinen Luxus. Alles was wir verlangen, ist Entschädigung, so dass wir einigermaßen menschlich leben können.“ Doch wenn er und seine Nachbarn das den Beamten erzählen, „sagen die nur, das werden wir an unsere Vorgesetzen weitergeben“. So wie Sekizawa klagen viele Überlebende der Katastrophe. „Die Regierung reagiert sehr langsam.“
Vielerorts sind die Trümmer durch den Tsunami zwar beseitigt, an anderen Orten sind die Spuren der Verwüstung aber auch nach einem Jahr noch allgegenwärtig. „Vieles bleibt am Rande der Stadt liegen, weil man davon ausgeht, dass niemand mehr dort wohnen würde“, erklärt Ken Horikawa in dem schwer vom Tsunami verwüsteten Ort Ishinomaki. Er gehört zu den unzähligen Freiwilligen, die sich auch ein Jahr nach Beginn der Katastrophe unermüdlich für die Überlebenden einsetzen. „Wenn man zur Stadtverwaltung geht, kriegt man mit, wie chaotisch am Wiederaufbau gearbeitet wird.“ Der Staat habe überhaupt kein Konzept.
Die Betreuung
Ging es anfangs ums nackte Überleben und die Versorgung mit dem Nötigsten in den Notlagern, gehe es heute vor allem um die seelische Betreuung der jetzt in Behelfsunterkünften untergekommenen Menschen, erzählt Horikawa. „Wir besuchen alte Menschen, hören ihnen zu, überreichen Briefe aus ganz Japan und verteilen Reis“, erzählt Horikawa. Viele Überlebende hätten sich von den anfänglichen Strapazen in den Notunterkünften noch nicht erholt.
Der Staat habe es bei der Einrichtung der Behelfswohnungen zudem versäumt, die sozialen Beziehungen der Menschen aufrechtzuerhalten. „Es lief alles durch Los“. Viele der oft alten Menschen fühlten sich einsam, man kenne die Nachbarn nicht, fühle sich fremd. Hinzu komme der Krach von Kindern, weswegen die Alten nicht schlafen könnten. Die Folge sei Stress.
Die Regierung
„Wenn man hier vor Ort ist, dann ist die Regierung so weit weg, dass man gar nicht sieht, was die eigentlich macht“, klagt Horikawa und drückt damit aus, was viele Menschen in den Unglücksregionen denken. Die Beamten hätten gar keine Vorstellung, wie hart das Leben in den Behelfshäusern sei. Ohne die Arbeit von Freiwilligen, von denen viele in Tokio leben und nach der Arbeit übers Wochenende zum Helfen nach Ishinomaki oder andere Orten fahren, gehe es zwar noch nicht. Wichtig aber sei, dass die Opfer irgendwann auf eigenen Füßen stehen könnten.
So wie Akiko Iwasaki. Sie hat ihr Gasthaus in Kamaishi dank einer Welle an Unterstützung – auch aus dem Ausland – und nicht zuletzt horrender privater Schulden bei der Bank wieder großteils renoviert. In der Gegend um das Gasthaus bieten dagegen noch immer zerstörte Häuser und Berge an Trümmern ein Bild der Trostlosigkeit und halten die Erinnerungen an die erste Zeit nach dem Tsunami wach. Als Iwasaki und die anderen Überlebenden in ihren zerstörten Häusern nach Reis, Bohnen und Gaskartuschen suchten und die Männer aus Autowracks Benzin herausholten und Getränkeautomaten und Kühlschränke in ihren überschwemmten Gästezimmern aufbrachen, um an die Flaschen zu kommen.
Der Wiederaufbau
Der Wiederaufbau in Kamaishi, einer der mit am schlimmsten betroffenen Orte, kommt nur relativ langsam voran, was Kritiker nicht zuletzt auf die schleppende Finanzierung durch die Regierung zurückführen. Dennoch will Iwasaki nicht aufgeben. „Als ich die hohen Schulden aufnahm, um das Haus zu reparieren, habe ich nicht an Urlaubsgäste gedacht, sondern an die Arbeiter für den Wiederaufbau.“ Jetzt bräuchten sie wenigstens nicht mehr im Auto zu schlafen. „Wenn sie schon für uns alle arbeiten, dann wollte ich ihnen wenigstens ein Bett anbieten.“
So wie viele der Überlebenden der Katastrophe will sie nicht wegziehen. „Unsere Heimat ruft nach uns“, sagt Iwasaki. Ihre Region habe schon viele Tsunamis überstanden. Das werde auch jetzt wieder so sein. „Für Außenstehende mag das unverständlich sein. Aber ich habe nur dann den Willen zum Leben, wenn ich hier bin“, sagt Iwasaki.
(Lars Nicolaysen/dpa/Tageblatt.lu)
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