Abhöraffäre überschattet Wahlkampf

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Vor der Wahl für ein neues Parlament im ärmsten EU-Land Bulgarien am Sonntag spricht kaum jemand über Problemlösungen. Der Wahlkampf dreht sich um illegales Abhören.

Niedrige Löhne, Probleme mit den Roma, viele arbeitslose Jugendliche, eine riesige Kluft zwischen Arm und Reich – die Liste der Herausforderungen für Bulgarien ist lang, sehr lang. Selbstverbrennungen und Massenproteste gegen Armut und Korruption hatten im Februar den Rücktritt der bürgerlichen Regierung unter Boiko Borissow (GERB) erzwungen. Statt über Lösungen für das EU-Land zu diskutieren, sind die wichtigsten Politiker vor der Parlamentswahl am 12. Mai mit einer Abhöraffäre beschäftigt. Knapp sieben Millionen Bürger sind stimmberechtigt.

„Die Menschen wollen Arbeit und Einkommen, wir aber bewerfen uns mit Abhörgeräten und Wanzen“, kritisierte Staatschef Rossen Plewneliew den völlig entgleisten Wahlkampf. Wer wen, wann und warum abgehört hat – dies scheint seit Wochen die wichtigste Frage im Lande zu sein. Die von den Medien in allen Details ausgebreitete Affäre um Ex-Innenminister Zwetan Zwetanow, der ein Drahtzieher der Abhöraktionen sein soll und jetzt den Wahlstab der Partei GERB leitet, ist offensichtlich spannender als die Wahlkonzepte der Parteien.

Regierung trat zurück

Der Wahlpavillon der GERB am Eingang eines Einkaufszentrums in Sofia ist kurz vor der Abstimmung fast leer. Im Mittelpunkt des aktuellen Wahlprogramms steht die Politik der zurückgetretenen Regierung, die wegen der Sparmaßnahmen bei der Opposition umstritten war. Die GERB will mit einer neuen Regierung die marode Infrastruktur weiter modernisieren, die EU-Förderung besser nutzen und die zehnprozentige Einheitssteuer auf Einkommen beibehalten. Neu sind mehr Sozialleistungen und Erleichterungen für Unternehmer als Antwort auf die Straßenproteste.

Massendemonstrationen hatten zwar Borissows Regierung gestürzt, doch die GERB führt nach allen bisherigen Umfragen in der Gunst der Wähler. Einige Meinungsforscher räumen der GERB einen sehr knappen Wahlsieg vor den oppositionellen Sozialisten ein. Diese wollen einen „Sozialstaat aufbauen“ und die „ungerechte Einheitssteuer“ durch höhere Steuersätze für Reiche ersetzen. Sie möchten außerdem das gestoppte Atomkraftwerksprojekt mit Russland bei Belene an der Donau weiterbauen. Die aus der früheren kommunistischen Staatspartei hervorgegangenen Sozialisten werfen der GERB „massenhaftes Abhören“ sowie einen „Hang zum Totalitarismus“ vor.

Abhörer wurde abhehört

Das unkontrollierte Abhören traf mittlerweile die GERB selbst. In einer veröffentlichten Tonaufnahme gibt Ex-Regierungschef Borissow Tipps, wie eine Korruptionsermittlung gegen einen Minister aus seinem Kabinett abgebogen werden kann. Sinnigerweise sorgte gerade dieser Minister mit einem Mikrofon für die illegale Aufnahme. Borissow ließ sich in vulgären und zynischen Worten auch über Journalisten und Soziologen aus. Korruptionsvorwürfe gab es gegen den Sozialisten-Chef Sergej Stanischew.

Die über das Internet organisierten Demonstranten, die im Februar und im März täglich auf die Straße gingen, stellten keine eigene Partei auf die Beine. In der kurzen Zeit konnten sich die Gruppen nicht einmal auf einen gemeinsamen Vertreter einigen. Die Proteststimmen dürften jetzt vor allem nationalistischen Parteien wie der Ataka zugutekommen.

Die Ataka dürfte ebenso wie die Partei der türkischen Minderheit (DPS) die Vier-Prozent-Hürde für das Parlament locker schaffen. Auch die Mitte-Rechts-Partei der früheren EU-Kommissarin aus Bulgarien, Meglena Kunewa, könnte ins Parlament einziehen. Keine der zerstrittenen Parteien dürfte die absolute Mehrheit erreichen. Das sind schlechte Aussichten für eine schnelle Regierungsbildung.