20 Jahre juristische Auseinandersetzungen

20 Jahre juristische Auseinandersetzungen
(AFP/Martin Bureau)

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In Paris hat am Montag ein Prozess gegen die amtierende Generaldirektorin des internationalen Währungsfonds und ehemalige französische Wirtschaftsministerin Christine Lagarde begonnen, dessen Ursachen gut 20 Jahre zurückliegen.

Der Saal der ersten Kammer des Landgerichtes in Paris hat eine schwerwiegende Geschichte. Hier stand einst Marie Antoinette vor Gericht. Sie habe, so hieß die Anklage, in einem ungeheuren Maße die Finanzen Frankreichs verschleudert.

Am Montag um 14.00Uhr begann in diesem Saal der Prozess gegen Christine Lagarde, ehemals Wirtschafts- und Finanzministerin der Republik Frankreichs (Link). Obwohl auch ihr vorgeworfen wird, „Nachlässigkeiten“ im Umgang mit dem Geld der Republik Frankreich begangen zu haben, endet der Vergleich hier schon. Denn die Sache ist ungleich komplizierter als der Prozess gegen Marie Antoinette, der ein Schauprozess mit vorher bestimmtem Ausgang war.

Gerichtshof nur für Minister

Christine Lagarde muss sich vor dem Staatsgerichtshof der Republik verantworten. Das ist ein Gerichtshof, der in Frankreich nur für Minister – ehemalige oder amtierende – eingerichtet worden ist. Er besteht aus drei hauptberuflichen Richtern und zwölf Geschworenen. Die Geschworenen wiederum sind sechs Mitglieder der Nationalversammlung und sechs Mitglieder des Senats, also Politiker.

Christine Lagarde steht vor diesem Gerichtshof aus nicht ganz ersichtlichen Gründen. Für „Nachlässigkeiten“ steht man gemeinhin nicht vor Gericht. Aber der Prozess hat seine Besonderheiten. Er geht zurück in das vergangene Jahrhundert. Ein Geschäftsmann, zeitweise Minister, namens Bernard Tapie, hatte sich Adidas einverleibt und den Deal mit der französischen Staatsbank Credit Lyonnais finanziert. Tapie übergab das deutsche Vorzeige-Unternehmen für einige hundert Millionen Euro (umgerechnet) an die Bank, die es an die Börse brachte und einen Erlös von um die 1,7 Milliarden erzielte. Tapie sah sich betrogen und begann eine Prozess-Serie gegen die Bank und den französischen Staat, die bis heute nicht beendet ist und seiner Aussage nach von seinen Erben fortgesetzt werden wird.

Fern jeder politischen Intrige

Unter dem Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy wurde zunächst Jean-Louis Borloo Minister für Wirtschaft und Finanzen. Nach einem Monat bereits wechselte er das Ministerium. Sarkozy fand in den USA eine Juristin mit großem Ruf, eine elegante Erscheinung, fern jeder politischen Intrige: Christine Lagarde. Die hoch-diplomierte Juristin ist Spezialistin im Arbeits- und Sozialrecht, war Präsidentin der mit 3.400 Anwälten in 70 Ländern tätigen Kanzlei Baker & Mckenzie. Christine Lagarde verantwortete etwa eine Milliarde US-Dollar Umsatz.

Christine Lagarde wurde von 2007 bis 2011 die Wirtschafts- und Finanzministerin Frankreichs. Unter den Akten, die ihr Vorgänger begonnen hatte, befand sich das Dossier Tapie/Credit Lyonnais. Mitten in der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2007/08 beschloss die Ministerin, das Dossier zu Ende zu bringen. Nachdem der Staat bereits Millionen von Anwalts- und Gerichtskosten bezahlt hatte, entschied sie sich zu einer außergerichtlichen Einigung. Die Affäre Tapie, die niemand in Frankreich anfassen wollte, betrachtete sie unter juristischen Gesichtspunkten, holte Auskünfte ein und entschied, eine Arbitrage durchführen zu lassen. Dies alles zwischen Sitzungen und internationalen Treffen von G7 und G20. Die mit der Arbitrage beauftragten Rechtsanwälte entschieden Überraschendes. Bernard Tapie stünden 403 Millionen zu, bestehend aus einer Entschädigung, aus Zinsen, und einer moralischen Entschädigung. Christine Lagarde hätte gegen die Entscheidung Einspruch einlegen können, sie tat es nicht und begründete das damals mit den immensen Kosten, die weitere Verfahren mit sich bringen würde und die die Arbitrage-Entscheidung weit übertreffen würden.

Politische Dimension unterschätzt

Sie unterschätzte dabei die politische Dimension. Jean-Louis Borloo hatte die Akte geöffnet, erwies sich aber als guter Freund von Tapie. Einer der Arbitrage-Anwälte erwies sich als guter Freund eines Anwaltes aus der Beteiligten-Szene. Gespräche über das Verfahren hatten im Präsidentenpalast stattgefunden. Außerdem: Der Bürochef der Ministerin, Stéphane Richard – heute Vorstandsvorsitzender des Telekom-Unternehmens Orange in Frankreich – gab möglicherweise nicht alle Dokumente in der Sache an sie weiter.

Die Sache schien erledigt, bis in einer Phase der Präsidentschaft von Francois Hollande sein Vorgänger mit Verfahren überzogen wurde und auch die Arbitrage Tapie wieder an die Öffentlichkeit geriet. Wegen der Befangenheiten wurde die Arbitrage für ungültig erklärt. Einer Reihe von Beteiligten – unter anderem Stéphane Richard – stehen Verfahren ins Haus. Die Ungültigkeit der Arbitrage hat zur Folge, was Christine Lagarde vermeiden wollte. Derzeit laufen elf Verfahren in der Sache Tapie/Credit Lyonnais/Arbitrage. Die Anwalts- und Gerichtskosten steigen in schwindelnde Höhe.

Elf laufende Verfahren

Die Ermittlungsrichter werfen Frau Lagarde vor, leichtfertig entscheiden zu haben und nachlässig gearbeitet zu haben. Sie habe unter anderem ein Gutachten aus der Verwaltung ihres Ministeriums nicht beachtet. Hier begibt sich das Verfahren gegen Christine Lagarde auf dünnes Eis, meinen Beobachter. Einem Minister müsse es möglich sein, politische Entscheidungen unter Übergehung von Gutachten aus der Verwaltung zu treffen.

Christine Lagarde hat, als geschäftsführende Direktorin, den Verwaltungsrat des Internationalen Währungsfonds stets auf dem Laufenden gehalten. Sie agiert auch hier als Juristin. In Washington wird nicht so ganz verstanden, was der IWF-Chefin in Frankreich geschieht. Der Verwaltungsrat hat ihr sein Vertrauen ausgesprochen. Einen Plan B soll es nicht geben. Christine Lagarde ist nach der ersten einstimmig zu einer zweiten Amtszeit gewählt worden. In den USA zählt sie neben Hillary Clinton und Angela Merkel zu den mächtigsten Frauen weltweit. Sollte der Staatsgerichtshof sie verurteilen – ihre Strafe könnte maximal ein Jahr Gefängnis und 15.000 Euro Geldstrafe betragen – ist damit zu rechnen, dass sie zurücktreten wird. Der Staatsgerichtshof wird – ungewöhnlich in Frankreich – das Urteil nach Ende des letzten Verhandlungstages, am 20. Dezember verkünden.