„Wir“ gegen „sie“

„Wir“ gegen „sie“
(Tageblatt)

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Wir“ gegen „sie“: Die Flüchtlingsdebatte führt uns vor Augen, wie sehr wir uns auch im Großherzogtum noch an nationalstaatlichen Denkkategorien orientieren.

Spätestens seit den Diskussionen über die Rolle der Grenzgänger spiegeln die Äußerungen vieler Luxemburger die Angst eines vermeintlichen Identitätsverlusts wider. Das fiktive Konstrukt Nation und das damit verbundene Gefühl der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Territorium samt luxemburgischer Kultur dienen vielen als gesellschaftspolitischer Kompass.

Dhiraj Sabharwal dsabharwal@tageblatt.lu

Das „Wir“-Gefühl dominiert, die Solidarität mit Menschen auf der Flucht und in der Not bleibt oft auf der Strecke. Die Identitätsfrage wird an einen falsch verstandenen, intoleranten Patriotismus gekoppelt. Ausschlusskriterium sind die Staatszugehörigkeit und der Mehrwert für die Ankunftsgesellschaft. Während zum Beispiel die Referendumsdebatte noch Aussagen wie „Dann sollen ’sie‘ doch die Luxemburger Staatsangehörigkeit annehmen“ erlaubte, fällt in puncto Flüchtlinge selbst dieses stumpfe Argument weg. Vor dem Bürgerkrieg fliehende Syrer versuchen zunächst, ihr Leben zu retten. Ihr Hauptziel ist die Erlangung des Asylstatus, nicht die Ausbeutung von Sozialsystemen. Die Reaktionen in privaten Kreisen und in sozialen Medien verdeutlichen jedoch, dass im Falle der Flüchtlinge mehr denn je Minoritäten („sie“) zum Feindbild erklärt werden – und sich die Mehrheit („wir“) in die Opferrolle begibt und als Minorität im eigenen Lande darstellt.

Am offensichtlichsten ist dieser widersprüchliche und verlogene Patriotismus, wenn die Hilfsbedürftigkeit von Flüchtlingen angesprochen wird. Sätze wie „Dann schaut gefälligst, dass Bettlern hierzulande als Erstes geholfen wird“ sind keine Seltenheit. Selbst jene Gruppe, die wegen des geschmacklosen Geltungsdrangs eines egozentrischen Juristen zurzeit in der Schusslinie steht, wird dann in Schutz genommen – weil sie plötzlich zur Gruppe, zu „uns“ gehört.
Diskriminierte der Lokalpatriot am Vortag noch das „Bettlerpack“, ohne auf die zugrunde liegenden sozialen Probleme von Armut einzugehen, so verwandelt er sich plötzlich in den von ihm ach so verhassten Gutmenschen: Bevor man den „gierigen“ Flüchtlingen auch nur einen müden Cent gibt, sollte lieber einer „unserer“ Hilfsbedürftigen finanziell unterstützt werden. Das Ausschlussverfahren des Patrioten ist folglich wenig konsequent. Zur Gruppe gehört, wer bei „uns“ keine Ängste oder Selbstzweifel hervorruft. „Wir“, ja „wir“, die „wir“ ohnehin bald nicht mehr die Mehrheit hierzulande darstellen, halten verkrampft an „unserer“ Identität fest. Selbst unter Migranten der zweiten und dritten Generation wettern nicht wenige gegen Zugezogene – Asylsuchende gehören aus ihrer Sicht eindeutig nicht zu „uns“.

Diese Verkrampfung ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass wir in einer Migrationsströme bzw. Mobilität voraussetzenden globalisierten Welt leben, die eine offene Mentalität verlangt. Eine Mentalität, die nicht an nationalstaatlichen Kategorien festzumachen ist. Allerdings sind diese Mobilität und Mentalität für viele nicht vereinbar oder akzeptierbar. „Wir“ reisen zwar gerne so frei wie möglich, wünschen „uns“ aber dennoch dichte Grenzen, damit bloß niemand zu uns vordringt, um uns etwas „wegzunehmen“. Diese Logik lässt sich selbst auf institutioneller Ebene feststellen: Obschon die EU-Kommission einen umfassenden Flüchtlingsplan auf dem Tisch liegen hat, liegt die Entscheidungshoheit immer noch beim streckenweise flüchtlingsfeindlichen Rat. Also bei „uns“, den Nationalstaaten, denen selbst europäische Integration fremd ist.