Wieder auf Los

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„Why do they hate us?“ – „Warum hassen sie uns?“, lautete die Frage, welche die US-Amerikaner und die westlichen Gesellschaften nach den Anschlägen vom 11. September klagend an die muslimische Welt richteten.

Manichäisch wie unsere Gesellschaften nun mal sind, formulierten wir selbst zwei sich diametral entgegenstehende Antworten, um zumindest ansatzweise den Dschihadismus fassen zu können.

Sascha Bremer
sbremer@tageblatt.lu

Es gab da die Besonnenen, die darauf hinwiesen, dass es gute Gründe gab, warum „sie“ uns hassen. Weil wir die diktatorischen und überaus korrupten Regime finanziell und militärisch unterstützten, welche den Großteil der Muslime in Armut und Unwürde darben ließen. Folglich sei dem Terrorismus und dem Hass nur mit einer Politik der Förderung der Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleiches beizukommen.

Wie wir wissen, beharrte der Westen lange Zeit darauf, diesen Weg nicht zu bestreiten.

Man hörte lieber den Brandstiftern zu, die eine scheinbar viel verständlichere Antwort auf die „Hassfrage“ liefern konnten: „Sie“ hassen uns, weil ihre Religion, ihre Kultur, ihr Wesen, ihre Lebensweise all die Werte nicht teilen kann – Gerechtigkeit, Freiheit etc. –, für welche der Westen steht. Das war bequem. Ließ sich medial ganz hervorragend vermarkten.

Die Folge war klar, der Westen brauchte seine Unterstützungspolitik gegenüber den korrupten muslimischen Regimen nicht zu überdenken. Vielmehr hieß es auf einmal, „wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“. Die Politik, die daraufhin initiiert wurde, sollte Hunderttausende Menschenleben kosten.

Alles Terroristen, oder was?

Das Perverse an dieser Geschichte ist, dass beide Umstände – die fortwährende Ungerechtigkeit in der muslimischen Welt und die Kriegstreiberei des Westens in diesen Ländern – den Nährboden bildeten, auf dem der terroristische Dschihad erst so richtig gedeihen konnte. Osama bin Laden und sein Vize und Chefideologe Aiman al-Sawahiri waren in ihrem Wahn, ein muslimisches Kalifat aufzubauen, daran gescheitert, dass die sunnitischen Massen ihnen nicht folgten. Der Anschlag vom 11. September und die Reaktion des Westens allerdings brachten dem eigentlich kleinen Zirkel von unbelehrbaren Gottesverrückten einige Sympathien ein.

Und auf einmal, zur Überraschung aller, sieht der über Jahre hinaus beschworene „Clash of Civilisations“ mit dem Arabischen Frühling und dem Tode Bin Ladens ganz anders aus. Neue, bis dato kaum für möglich gehaltene Perspektiven tun sich auf.

Der „War on terror“ und die Assoziation Muslim = Islamist = Terrorist haben sich als leere Begriffe erwiesen. Womöglich müssen wir bei Letzterem radikal umdenken. Das türkische Modell zeigt Ansätze, die darauf hinweisen, dass Islamisten sich zu Muslim-Demokraten wandeln können. Ein Modell, das für viele Muslime attraktiv sein könnte.

Ist damit der Dschihad-Terror besiegt? Keineswegs. Gottesverrückte wird es einerseits auch weiterhin geben. Andererseits hat der Arabische Frühling – in Tunesien und Ägypten, andere werden aber folgen – gezeigt, dass der gewaltlose Volksaufstand viel effektiver ist, um sich der verhassten Regime zu entledigen, als es Bin Ladens undifferenzierte Mordlust je war. Weshalb? Weil die Mehrheit der Muslime eben Gerechtigkeit und eine Verbesserung ihrer sozialen Lage wollen.

Die Umwälzungen in der muslimischen Welt werden die Menschheit noch so mancher Gefahr aussetzen. Allerdings wird auch hier die Uhr nicht mehr zurückzudrehen sein und sich die Verhältnisse in diesen Ländern mittel- bis langfristig deutlich verbessern. Der Westen täte gut daran, jetzt die besonnene Position zu beziehen, welche vor zehn Jahren von George W. Bush und Co. so kläglich verworfen wurde. Dann könnte es nämlich durchaus sein, dass sich die eingangs gestellte Frage erübrigt.